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Wofür es sich zu leben lohnt

Wofür es sich zu leben lohnt

Titel: Wofür es sich zu leben lohnt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert Pfaller
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Leben, die für alle materialistische Philosophie die entscheidende Grundfrage bildete, müssen wir den exzessiven, letztlich dem Todestrieb dienenden Säuberungstendenzen des tyrannischen Über-Ich entgegenhalten. Nur auf der Grundlage dieser Frage werden wir dem Humor und mithin dem scheinbar Schmutzigen und Unreinen, dem Nicht-Ichkonformen jenen Platz einräumen können, der für ein Leben, das sich lohnt, notwendig ist. Und wenn uns die Opfer der postmodernen Ideologie wirklich einmal begegnen, die unter der Bedingung der Gegenübertragung sich selbst als grenzenlos Schwache imaginieren und als völlige Idioten agieren, dann müssen wir uns an die geglückte Intervention der Signora Fo erinnern. Wenn wir zum Beispiel Studierende antreffen sollten, die an der Universität alles vorgeschrieben bekommen möchten, weil die Aufforderung, eigene Interessen zu entwickeln und ihnen nachzugehen, sie aufgrund ihrer Bildungsferne verwirre, dann müssen wir ihnen mit liebevoller Strenge zurufen: »Bohr nicht in der Nase! Schau dir an, was die Universität dir bieten kann!« – Wir müssen also denjenigen, die sich selbst auf jene neue Schlichtheit des Gemüts beschränken möchten, die man ihnen eingeredet hat und in der sie sich darum liebenswert vorkommen, zeigen, dass wir ihnen mehr zutrauen als sie sich selbst und dass sie für uns in größerer Komplexität noch weitaus liebenswerter sind als in der trügerischen Einfachheit ihrer künstlichen Idiotie.
    12 .
    Bertolt Brecht, der lehrte, das Leben zu lieben, aber oft gezwungen war, dieses Programm unter den denkbar kargen Bedingungen von Armut, Flucht und Exil zu verwirklichen, konnte vom gemeinsamen Philosophieren beim »Theetrinken« schwärmen. Und in seinem Gedicht »Tahiti« heißt es:
»Der Schnaps ist in die Toiletten geflossen/Die rosa Jalousien herab/Der Tabak geraucht, das Leben genossen/Wir segelten nach Tahiti ab./Wir fuhren auf einem Roßhaarkanapee/Stürmisch die Nacht und hoch ging die See […]«
(Brecht 1984 : 105 ). Aus der simplen Anordnung dieser überschwänglichen Freuden lässt sich eines erkennen: So sehr die Dinge (und Praktiken), für die es sich zu leben lohnt, Überschreitungen einer profanen Ordnung des Alltags darstellen, so sehr sind sie andererseits einfache, leicht herstellbare oder zu beschaffende Dinge (und Praktiken).
    Das heißt allerdings nicht, dass sie nicht leicht verlorengehen können. Unter den Bedingungen neoliberaler Ökonomie und der sie begleitenden postmodernen Ideologie gehen sie in kaum für möglich gehaltenem – und weltgeschichtlich vielleicht noch nie dagewesenem – Ausmaß verloren; teilweise sogar für die privilegiertesten Eliten, und umso mehr für alle anderen. So werden durch sogenannte »General Agreements in Trades und Services« ( GATTS ) sogar Ressourcen wie Trinkwasser oder traditionelle Heilmethoden plötzlich privaten Verwertungsinteressen unterworfen und dadurch künstlich verknappt. Die Kommerzialisierung des Freizeitbereichs macht einfache Vergnügungen wie Turnen, Laufen oder Radfahren zu teuren, hochspezialisierten Hobbys; zugleich sind sie nicht mehr einfach Hobbys, sondern gehorchen als neue Pflichten dem Imperativ durchgehender Fitness und sportlicher Einsatzbereitschaft, die bei beruflichen Bewerbungsgesprächen zunehmend abgefragt werden – und die darum unter Umständen – z.B. wenn auch Risikobereitschaft zum Anforderungsprofil zählt – durch neue, riskantere wie z.B. »Bouldern«, »Rafting« oder »Parcours« ersetzt werden müssen. Und die ideologische Präformierung der Individuen lässt sie solche Genüsse wie den einer üppigeren Mahlzeit, einer Zigarette, eines Glases Wein oder eines erotischen Abenteuers pauschal als ungesund, unvernünftig, moralisch indiskutabel und ekelhaft empfinden und von sich aus ablehnen.
    Was die menschlichen Wünsche und die Möglichkeiten ihrer Erfüllung betrifft, stoßen wir also in der Gegenwartskultur auf eine eigentümliche Diskrepanz. Sie ist so speziell, dass sie späteren Epochen geradezu als Erkennungszeichen unserer Zeit dienen könnte. Einerseits befinden wir uns im Sog einer ganzen Industrie, die – wie Günter Anders bemerkte [26]  – nichts anderes tut, als neue Bedürfnisse und Wünsche zu generieren. Auf der anderen Seite werden den Menschen selbst einfachste Ressourcen entzogen, oder sie lehnen sie, unter dem Einfluss postmoderner Ideologie, plötzlich von sich aus ab. »Oversexed and underfucked«, diese sprichwörtlich

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