Wofür es sich zu leben lohnt
Frisuren und Perücken. Seit dem »Beleuchtungswechsel« in der Kultur etwa Mitte der 90 er Jahre hingegen erscheint Schönheit nicht mehr als ein Effekt des »als ob«. Man muss nicht anderen etwas vorspielen, sondern selbst etwas sein. Darum tritt an die Stelle des theatralischen Scheins die bittere Wahrheit der kosmetischen Chirurgie. Es werden nicht mehr unerwartete neue Möglichkeiten erzeugt, sondern lediglich Mängel behoben und Störendes beseitigt. Damit ist klar, dass man nun in der Bilanz der Schönheit sozusagen nie mehr ins Plus gelangen, sondern bestenfalls unter großen Anstrengungen ein »Nulldefizit« erreichen kann. Jedoch lässt sich die neu erwachte bzw. geweckte postmoderne Sensibilität für alles, was stören könnte, kaum jemals zufriedenstellen: Kaum sind die Ohren angelegt, erscheint die Nase als krumm, oder die Zähne erfordern mehr Regelmäßigkeit. Und spätestens wenn die obersten, äußeren Regionen umgebaut sind, geraten andere Körperzonen unter Verdacht: Selbstverständlich müssen zum Beispiel auch Schamlippen heutzutage streng symmetrisch gestaltet sein; und sei es nur, damit nicht die naturwüchsige Unregelmäßigkeit daran schuld ist, wenn sie – unter den Bedingungen grassierender Sexualarmut – niemand mehr zu sehen bekommt.
8 .
An dieser niemals zufriedenzustellenden Unzufriedenheit zeigt sich die Untauglichkeit der postmodernen Affektorganisation im Ästhetischen. Wenn man den Narzissmus der Individuen ermutigt, so dass sie nur noch ihr Eigenstes wollen und nichts Ichfremdes mehr an sich ertragen, dann wird ihnen keine Lust mehr als Lust erfahrbar. Sie können das Sublime nicht mehr sublimieren und das alltägliche Heilige nicht mehr feiern. Freilich ist die Lust damit nicht verschwunden: Sie kehrt wieder als neurotische Unlust, in ihrer verkehrten Gestalt des Abscheus, des Ekels und des Gefühls der Belästigung. Die früheren Götter sind, wie Freud unter Verweis auf Heine schrieb, durch ihren Sturz zu Dämonen geworden und bedrängen nun auf ungute, ekelnde, anstoßerregende oder ängstigende Weise. [21]
Die Individuen, die keine geselligen Gebote der Lust mehr erhalten, werden in der Folge zu schutzlosen Opfern ihres Über-Ich. Dieses bestraft uns bekanntlich umso strenger, je mehr wir ihm gehorchen. [22] Darum ist keine kosmetische Operation jemals zufriedenstellend oder gar beglückend. Die Individuen kennen keine Gnade mehr, mit sich selbst ebenso wenig wie mit anderen. Sie können sich nicht, wie es für Erwachsene eigentlich selbstverständlich wäre, kleine heitere Momente der Ausgelassenheit oder der Übertretung gönnen. Solchen Humor kennen sie nicht, sondern verfolgen sich und andere unerbittlich und paranoid mit den Reinheits-, Gesundheits-, Korrektheits- und Sicherheitsgeboten dessen, was sie für ihre Vernunft halten.
9 .
Fragen des ästhetischen Empfindens – sowie deren Ersetzung durch Fragen nach Gesundheit, Sicherheit, Korrektheit etc. – sind heute von entscheidender politischer Bedeutung. Denn es geht um die zentralen menschlichen Lustmöglichkeiten; diese aber sind von Bedingungen der Geselligkeit abhängig. Gerade diese Geselligkeit wird jedoch gegenwärtig – im Rahmen einer neoliberalen Politik der Privatisierung – zerstört. Diese Politik hat alles, was als öffentliches Gebot des Humors oder der lustvollen Überschreitung dienen konnte, beseitigt und mit dem Zuruf »Wenn Sie das schon machen müssen, dann tun Sie es bitte zu Hause!« aus der Öffentlichkeit verbannt. Eine scheinbare Rücksicht auf vermeintlich Schwache, deren Betroffenheit und deren Beschwerden man ernst nehmen müsse, hat dieser autoritären Politik dabei als verlogene Rechtfertigung gedient. Peter Sloterdijk scheint diesbezüglich nicht unrecht zu haben, wenn er bemerkt, dass sich dogmatische Autorität heute gerne mit Schwäche verbindet. [23] Jede Beschwerde und jede Rücksichtnahme auf einen angeblich Schwachen dient gegenwärtig als Vorwand zur Demontage eines sozialen Standards.
Dies gilt nicht allein für die aktuelle Pseudopolitik der staatlichen Rauchverbote, mit denen man unter anderem angeblich das Servierpersonal der Gaststätten schützen will – so, als ob man sich um dessen ökonomisch meist äußerst prekäre Arbeitsbedingungen bisher auch nur im geringsten gekümmert hätte. Vergessen wir nicht, dass auch die sogenannte »Bologna-Reform« an den Universitäten, gegen die sich seit dem Herbst 2009 die Studierenden und Lehrenden in vielen
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