Wofür es sich zu leben lohnt
Soldat/in!«); sie ermutigt sie vielmehr, darauf zu beharren, was sie sind, und jedes Angebot eines symbolischen Mandats als Übergriff zu beklagen. So werden Menschen ins Privatfernsehen eingeladen, nicht um dort als
public men
bzw. als
citoyens
Fragen von allgemeinem gesellschaftlichen Interesse zu erörtern, sondern um als
freaks
ihre Privatmarotten vorzuführen – mithin, um sich zu dem machen zu lassen, was im antiken Griechenland der Terminus für Leute war, die nichts als ihr Eigenes, Privates pflegten: zu
Idioten
.
Ohne jede Ermutigung durch die Gesellschaft hätten die Leute sich wohl geschämt, so etwas zu tun. Erst seit die postmoderne Kultur ihnen suggeriert, dass sie genau dadurch authentisch, mithin frei von Fremdbestimmung und liebenswert wären, treten scharenweise Personen auf, die bereit sind, sich dazu enthemmen zu lassen. Auch hier war somit eine gesellschaftliche Lustbedingung notwendig, damit die Individuen zu dieser Lust gelangen konnten. Allerdings ist es eben eine paradoxe Bestärkung: eine soziale Ermunterung zum Asozialen; ein gesellschaftlicher Aufruf zum individuellen Narzissmus.
6 .
Dies hat zu dem bekannten Effekt geführt, den der amerikanische Kunstkritiker Robert Hughes treffend als »culture of complaint« bezeichnet hat (s. Hughes 1994 ). Und Slavoj Žižek hat die entsprechende Struktur analysiert: Es ist eine Situation, in der allen Menschen ein neues Recht eingeräumt wird – allerdings auch nur noch dieses: nämlich das universelle Menschenrecht, vom Anderen nicht belästigt zu werden (s. Žižek 2002 : 21 f.). Und als Belästigung gilt unter postmodernen Bedingungen, wie gesagt, nichts so sehr wie die Zivilisiertheit des Anderen.
Dadurch kommt es zu einer Situation, in der dem, was der Gesellschaft als ganzer dient, keine Materialität mehr zugestanden wird. Alles, was materiell existiert, so die verbreitete Wahrnehmung, muss eben darum privat sein. In der Folge wird dem Staat (bzw. supranationalen Formationen wie etwa der Europäischen Union) die Aufgabe übertragen, die Individuen vor Belästigungen durch andere zu schützen. Dies bedeutet allerdings, dass sie vom öffentlichen Raum nichts mehr fordern oder auch nur erwarten können. Die Öffentlichkeit ist nicht mehr dazu da, ihnen etwas Positives zu bieten, das sie alleine nicht aufbringen könnten – wie etwa soziale Sicherheit und Solidarität im Krankheitsfall, Altersvorsorge, Infrastruktur, Zugang zu Bildung etc. Die öffentliche Hand hat nur noch dafür zu sorgen, dass im öffentlichen Raum nichts mehr vorkommt, was den Individuen nicht auch von ihrem Privatraum her bereits vertraut ist. Darum wird die Funktion des Staates nur noch zu einer negativen: Er hat zu beseitigen und zu verbieten, was immer einer von der postmodernen Ideologie enthemmten Narzisstin oder einer männlichen Mimose als belästigend erscheint. Damit beseitigt er freilich unter anderem auch genau die zuvor genannten positiven Qualitäten: Die staatlich verhängten Rauchverbote beispielsweise dienen ja nicht dazu, die Individuen vor Krankheit zu schützen, sondern vielmehr dazu, das Solidaritätsprinzip bei der Krankenversicherung zu durchlöchern und die Individuen für ihre eigene Krankheit haftbar zu machen. Wenn sie an Lungenkrebs erkranken, müssen sie selbst schuld sein und zu Hause geraucht haben, denn im öffentlichen Raum kann ihnen ja kein Rauch mehr begegnet sein; also sollen sie auch selbst für ihre Behandlungskosten aufkommen. Der scheinbar schützende Staat beseitigt selbst eifrig die wichtigsten materiellen Einrichtungen gesellschaftlicher Solidarität.
7 .
Diese Veränderung von der Produktion positiver Qualitäten hin zur Beseitigung von solchen, die als störend empfunden werden, zeigt sich nicht nur im Politischen, sondern auch im postmodernen ästhetischen Empfinden. In einem anderen Sinn als Jacques Rancière könnte man darum zu dessen Feststellung gelangen, »daß der Politik eine Ästhetik zugrundeliegt«: [20] Was wir politisch hinnehmen, ist gegründet auf die neu erworbenen Defekte unseres Lustempfindens. Diesbezüglich sind wir übergegangen von einer Kultur der Schönheit zu einer Kultur der Makellosigkeit. Solange Individuen den öffentlichen Raum wie Sennett als eine Sphäre des »als ob« begreifen konnten, setzten sie dort die Mittel des Theaters ein, um die Aufmerksamkeit, den Respekt und das Wohlwollen der anderen zu erreichen: Sie kostümierten und schminkten sich und kultivierten ihren Umgang mit
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