Wohin mit mir
Frauen geben sich nicht zufrieden. Ausziehen ruft eine, und Almuth deutet mir, ihr in die an die Küche grenzende kleine Kammer zu folgen.
In eine Art Hauskittel gewandet sehe ich dann zu, wie Lagen von Zeitungspapier auf den Fußboden gebreitet werden, der Rock darauf. (Er hat die Form einer Bocksbeutelflasche.) Dann höre ich das Rädchen; Erinnerung an ein Kindheitsgeräusch, mit einem solchen räderte meine Mutter ihre Schnittmuster aus. Allgemeine Heiterkeit. Mehrfach muß »la Repubblica« herhalten, für alle, die sich nach dem Schnitt einen Rock nähen wollen.
Endlich gelingt es mir, ein Wort mit Fabrizia Ramondino zu wechseln. Sie habe ein Alkoholproblem, ist mir schon mehrfach zugeflüstert worden. Ich sehe es, weiß es zudem aus ihrem Text; von der Bestie Alkohol spricht die Erzählerin, die der realen Person der Autorin offenkundig sehr nah ist.
Ich sage ihr, wie sehr mir ihr Buch gefallen habe. Sie dankt förmlich und überschwenglich, winkt zugleich ab. Ich kann es nachempfinden, man will nicht über längst Abgeschlossenes, bereits Gedrucktes reden. Und schon gar nicht in privater Gesellschaft und zu dieser Stunde. Ich fürchte, unser Gespräch ist beendet.
Aber dann fragt sie, mich scharf fixierend, Ost oder West? Auf meine Antwort hin wird sie lebhaft; ich bin ermutigt, ihr zu sagen, wie stark die Passagen im Buch über Jorge Semprún und Buchenwald seien. Als Reaktion zieht sie mich an sich. Lächelt. Sie habe achtzig unveröffentlichte Seiten über Weimar liegen, flüstert sie. Und dann sind wir für einige Zeit in einem beglückenden Dialog.
Ihre lebhaften Züge. Ihre Schönheit. Ich sage es ihr. Da auf einmal wieder Distanz, Abwehr. Ich sei die letzte, von der sie das entgegennehmen könne, erwidert sie, sie bereite sich auf ihren Abgang vor, die Welt gefalle ihr nicht mehr. Sie schwankt leicht; ihre neapolitanische Freundin tritt auf sie zu, legt ihr den Arm um die Schulter, die beiden entfernen sich.
Es geht auf Mitternacht zu. Der Zeiger rückt vor. Noch wenige Minuten. Paul füllt die Gläser. Wir gehen nach draußen. Ein kleiner steinerner Innenhof. Von der Brü
stung der Mauer ist unten das Meer zu sehen, eine fast schwarze Fläche, vereinzelt Lichtpunkte auf ihr. Die Nacht ist lau. Der Himmel sternenlos. Eine Minute noch, sagt jemand. Der Sekundenzeiger. Der letzte Ruck. Mitternacht.
Ich umarme den Sohn, und er mich, wir stoßen an, auf uns, auf den Winzling Noah, auf seine Eltern, auf Freunde, auf alle, die uns nah sind, die wir mögen. Vor mir Gestalten, Gesichter von Lebenden und Toten; an die Lebenden richte ich meine Wünsche, an die Toten meinen Dank. Eine einzige der Gestalten ist mir unbekannt, nordisch groß und schlank sehe ich sie vor mir, aber sosehr ich mich auch mühe, Gesichtszüge herbeizurufen, eine Kopfform oder das Haar; vergeblich. Ist es der Mann, den ich finden, mit dem ich leben möchte? Die Sekunden, in denen das durch meinen Kopf geht.
Felice anno nuovo , Prost Neujahr, Anstoßen, Umarmen, alle mit allen. Aber niemand von unserer kleinen Gesellschaft zündet einen Feuerwerkskörper oder läßt eine Rakete steigen, auch unten aus dem Dorf ist nichts zu hören. Die schöne Ruhe. Nur unsere Stimmen und der Klang der Gläser. Auch das Schauspiel, das wir von der Brüstung der Steinmauer verfolgen, spielt sich in völliger Lautlosigkeit ab.
Die schwarze Fläche von Himmel und Meer belebt sich. Vor uns sind farbige Lichter zu sehen. Die Insel Ventotene, sagt Paul, und weiter entfernt, wo auch ein schwaches Flackern von Lichtern am Himmel ist, liegen die Isole Ponziane. Zur Linken aber ist der Himmel von Rot übergossen, ein unruhiges Zucken, in die Rot
töne mischt sich züngelnd und flackernd ein Blau, ein Gelb, ein grelles Grün.
Es ist der Widerschein der Feste, die in Neapel und auf der Insel Ischia gefeiert werden, die zur Vertreibung des 20. und zur Begrüßung des 21. Jahrhunderts abgefeuerten Raketen. Ein von Menschen gemachtes Wetterleuchten, das für uns hier oben in den Bergen wie das der Natur lautlos ist. Mir kommt Ingeborg Bachmann in den Sinn, wie sie mit Henze auf dem Dach des Sarazenenhauses das neapolitanische Feuerwerk erlebte. Am 12. August 1953 war es, da war ich dreizehn. Siebenundvierzig Jahre ist das her, Vergangenheit, Vergänglichkeit, Lebenszeit, wer mißt sie einem zu?
Später sitzen alle um den großen Tisch, es gibt Linsensuppe, ich kenne den Brauch aus meiner Kindheit in Thüringen, wenn man genug ißt, soll einem das
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