Wohin mit mir
Wohin mit mir
D as letzte Jahr des vergangenen 20. Jahrhunderts. Für mich, die Erzählerin, war es ein abenteuerlich volles, verwirrendes Jahr, dieses 1999. Die Dichte der Ereignisse, die mich nicht zur Besinnung kommen ließen, der Wechsel der Orte, die der Körper vollzog, ein Wechsel, bei dem die Seele nicht nachzukommen vermochte. Ihr Zurückbleiben. Vergebliches Warten. Wohin mit mir.
Meinen Lebensmittelpunkt hatte ich – nach dem Sturz meines Landes in den Abgrund und der Öffnung der Grenzen in alle vier Himmelsrichtungen – im hohen Norden gefunden, in Schweden, unweit des nördlichen Polarkreises, in einer Landschaft, in der alles lag, was ich erzählen wollte, in der mich eine warm bewohnte Unendlichkeit umgab. Da rief man mich nach Süden, nach Italien. Vom 1. Juli bis 31. Dezember wurde mir ein Aufenthalt als Stipendiatin der Casa di Goethe in Rom zugesprochen.
Und zudem: im Frühjahr des Jahres 1999 war ich in der Erwartung, Großmutter zu werden. Eine halbjährige Abwesenheit aus Deutschland?
Auch mein Verlag zeigte sich nicht glücklich darüber. Mein im August des Vorjahres erschienenes Buch hatte überraschend Erfolg. Ein Ansturm von Wünschen nach Lesungen. Wenigstens einen Teil solle ich erfüllen, sagte mein Verleger, und so drängten sie sich im ersten Drittel des Jahres zusammen.
Dann kam noch etwas dazu, das wohl entscheidend war: In mir arbeitete bereits ein nächstes Buch. Es hatte, wie konnte es anders sein, den hohen Norden zum Erzählraum. In diese Landschaft war ich durch meinen älteren Sohn gekommen, der sie für sich entdeckt und mich und seinen jüngeren Bruder mit seiner Leidenschaft für den Norden infiziert hatte. Jahre schon hatten wir den Traum: ein Buch zu dritt darüber zu machen. Nun brachte der Erfolg ihn in greifbare Nähe. Ich entsinne mich an den Tag, als wir ihn in die Realität eines Entschlusses wandelten. Es war Karfreitag, der 2. April. Mit den Söhnen und der hochschwangeren Frau des älteren fuhren wir in die Umgebung von Berlin hinaus. Mieteten am Lehnitzsee ein Boot, ruderten zur Mitte des Sees, ließen das Boot treiben, es kreiste um sich selbst, lange, trieb dann unendlich langsam dem Ufer zu. Und da stand der Entschluß fest. Und auch der, daß ich vor meinem Aufbruch nach Italien allein nach Norden fliegen, dort die Zeit von Mitte Mai bis Mitte Juni verbringen würde.
Wenige Tage nach jener Bootsfahrt kam das Kind zur Welt. In das Glück meines Großmutter-Daseins mischte sich die Bitternis über die Vorgänge im zerfallenen Jugoslawien. Am 21. März hatten – ohne Mandat der UNO – die Luftangriffe der NATO -Verbündeten auf Serbien begonnen. Auch in der Nacht, als das Kind geboren wurde, bombardierten NATO -Flugzeuge serbisches Gebiet. Wenige Tage später, ich war schon wieder unterwegs, beim Umsteigen auf dem Leipziger Hauptbahnhof die riesige Leinwand, auf der Bilder vom zerstörten Belgrad flimmerten, in der Nacht war das In
nenministerium getroffen worden. Und Aufnahmen von einem von Flugzeugen angegriffenen Zug, in dem Zivilisten saßen. Die Tötung von Unschuldigen, Gewaltanwendung im Namen einer Aktion, für die man das Wort Friedensdurchsetzung hatte; eine in meinen Augen durch nichts zu rechtfertigende Aktion, an der sich auch Deutschland beteiligte. Waren die Politiker meines Landes von allen guten Geistern verlassen?
Mitte Juni, als ich von Luleå in Nordschweden nach Berlin zurückflog und in Stockholm zwischenlandete, sah ich auf den Titelseiten der großen Zeitungen und auf den Bildschirmen in der Wartehalle: Die NATO -Verbündeten, unter anderen auch deutsche Truppen, zogen wie Siegermächte im Kosovo ein, und die Menschen standen an den Straßenrändern und winkten den Panzern zu.
Der hohe Norden. Mitte Mai. Der Winter war noch nicht vorbei. Der Piteälven trug noch Eis. Überall waren Schneereste. Auch auf dem Grundstück in Roknäs; der Nachbar hatte den Schnee zu Haufen zusammengeschoben. Die Bäume waren noch völlig kahl. Die Erde gefroren. Nur in den Ameisenhaufen regte es sich.
Aber wie in all den Jahren beginnt das Glück hier übergangslos; von Null auf Tausend. Sofort bin ich von dieser Unendlichkeit umgeben. Morgensonne. Draußen vor meiner Kammer auf dem Rentierfell sitzend frühstücke ich. Am Fluß treffe ich eine Elchmutter mit ihrem Kind und zwei Rentiere. Ich besuche meine Freunde in Bölebyn, der Eisgang auf dem Piteälven hat ihre Saunahütte weggerissen. Ich schlafe zehn Stunden.
Traumlos. An einem
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