Wolf Shadow Bd. 3 - Dunkles Verlangen
durch die Realität gleiten wie auf Eis.
Als sie auf dem Rücken liegend wieder zu sich kam, schien die Sonne immer noch, ihre Begleiter waren immer noch hinter der Wegbiegung, und auf ihren Lippen lag ein Name, der seit vierhundert Jahren nicht mehr laut ausgesprochen worden war.
Auch jetzt sprach Li Lei den Namen nicht aus. Aber er klang in ihrem Inneren und sprach von einer Zukunft voller Schrecken und Freude, Erinnerung und Wandel. Einige Atemzüge lang rührte sie sich nicht und wartete darauf, dass ihr Herz seinen regelmäßigen Schlag wieder aufnahm. Und darauf, dass sie begriff, was geschehen war und was es bedeutete.
„Dann“, flüsterte sie, „ist er also zurückgekommen.“
Und wie lange war er schon zurück, bevor der Wind durch sie hindurchgeweht war und seinen Namen geflüstert hatte? Ihr Blick verfinsterte sich.
Als sich Stimmen näherten, stand sie auf. Sie zuckte zusammen – es sah ja schließlich keiner –, weil ihre Hüfte schmerzte. Es hatte eine Zeit gegeben, als ein kleiner Sturz wie dieser … nun, das war jetzt nicht wichtig. Sie war alt, und aus irgendeinem unerfindlichen Grund hatte ihr Schöpfer beschlossen, dass Altersschwäche zum Leben dazugehörte. Wenn man damit haderte, wurde es nur noch schlimmer.
Trotzdem brummte sie nun leise vor sich hin, auch wenn es an niemand Bestimmten gerichtet war, als sie den Pfad zurückging.
Die anderen kamen um die Biegung, hinter ihrem Führer. Er war ein kleiner, agiler Mann um die vierzig, dem es gar nicht gefallen hatte, dass sie vorausgelaufen war. Er hatte sogar tatsächlich geglaubt, er könnte sie zurückhalten. Das Ehepaar hinter ihm kam aus Peking, die beiden jungen Männer irgendwo aus Guizhou.
Li Lei Yu wusste nicht, warum die anderen sich gerade heute dazu entschlossen hatten, diesen Berg zu besteigen, und es interessierte sie auch nicht. Ihr Interesse galt einzig und allein einer Person in der Gruppe, einer Frau mittleren Alters, die ganz hinten stand. Sie achtete nicht auf die Fragen und Zurechtweisungen des Führers, als sie sich den Weg zu ihrer Begleiterin bahnte. Li Qins liebes, aber hässliches Gesicht war gelassen wie immer, und ihre Stimme war immer noch so überraschend schön wie damals, als sie sich das erste Mal getroffen hatten. „Haben Sie den Gipfel erreicht und sind nun zurückgekommen, um uns den Weg zu weisen, Madam?“
Das war Li Qins Sinn für Humor. Es war offensichtlich, dass nur ein Weg zum Gipfel hinaufführte. „Ich habe keine Lust mehr, ins Leere zu reden. Das ist zu einseitig. Wir gehen jetzt.“
Gehorsam wandte sich Li Qin um und begann, den Pfad hinunterzugehen. „Gehen wir zum Hotel zurück?“
„Nein. Nach Hause.“
„Ah.“ Schweigend folgte ihr Li Qin.
„Du tust es schon wieder“, murmelte Li Lei. „Das ist sehr unschön.“
„Ich habe nichts gesagt.“
„Du denkst sehr laut.“ Ein paar Minuten lang stiegen sie weiter schweigend bergab, bis sie widerstrebend sagte: „Ich gebe es ja zu. Du hattest recht. China ist nicht länger meine Heimat.“
Sanft antwortete Li Qin: „Das habe ich nicht gesagt.“
Nicht wörtlich, nein. Sie hatte gesagt, dass Li Lei ihrer Ansicht nach in China nicht das finden würde, was sie suchte. Aber es lief auf dasselbe hinaus, denn Li Lei sehnte sich nach Heimat. Nach Heimat und danach, Menschen wiederzusehen, von denen doch so viele schon nicht mehr lebten.
Aber nicht alle. Sie blieb stehen und wandte sich um, um ihrer alten Freundin in die Augen zu sehen. „Ich habe etwas gefunden, nach dem ich nicht gesucht habe. Oder es hat mich gefunden.“ Sie holte langsam Luft und atmete wieder aus. „Die Wende. Die Wende ist gekommen, Li Qin.“
Li Qin sog die Luft ein, so leise, dass selbst Li Leis Ohren das Geräusch kaum vernahmen. Ihre Augen weiteten sich. Sie war nun ganz und gar nicht mehr gelassen.
1
19. Dezember, 09.52 Uhr (Ortszeit)
20. Dezember, 02.52 Uhr ( GMT )
Das National Symphony Orchestra hatte mit seiner Aufführung des „Messias“ von Händel um halb neun begonnen, und der Chor brachte gerade das „Halleluja“ zu Ende, als der Tenor sich in einen Wolf verwandelte.
Bis dahin hatte Lily Yu den Abend genossen. Was sie nicht erwartet hatte, nachdem sie die neuesten Informationen über die Ermittlungen erhalten hatte. Und davor hatte sie sich mit der Frage herumschlagen müssen, was sie anziehen sollte. Lily hatte nichts gegen schicke Kleidung. Ihr Schrank zu Hause war gut gefüllt, hauptsächlich mit Jacken für die Arbeit
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