Wolf Shadow Bd. 3 - Dunkles Verlangen
„In der Geschichtswissenschaft, die sich mit der Zeit vor der sogenannten Säuberung beschäftigt, gibt es zwei Schulen. Die erste, die vor allem in der westlichen Welt Anhänger findet, geht davon aus, dass die frühesten Berichte über wichtige magische Ereignisse das Ergebnis von Propaganda, Übertreibung, Hysterie und Aberglaube sind. Doch viele von diesen Berichten stammen von Männern, die alles andere als Scharlatane oder leichtgläubige Dummköpfe waren.“
„Geschichte wird von den Siegern geschrieben“, sagte Sherry.
Er belohnte sie mit einem entzückten Lächeln. „Ganz recht. Die, die die Säuberung durchgeführt hatten, waren die Sieger gewesen, und ihre Sicht ist in unserer Kultur verankert. Wir lehren sie an unseren Schulen und beschäftigen uns in unzähligen Doktorarbeiten damit.“
Ito schnaubte. „Es wäre nicht das erste Mal, dass in Harvard ein Haufen Mist gelehrt würde.“
Sherrys Augen blitzten. „Hikaru, unterrichtest du nicht in Harvard?“
„Deswegen weiß ich es ja.“
Fagin nickte Lily zu. „Sie haben sich sicher schon gedacht, dass ein paar von uns diese allgemein akzeptierte Sicht nicht teilen. Wir glauben, dass es früher einmal viel mehr Magie in der Welt gab und dass es das Versagen der Magie war, das die Säuberung verursacht hat.“
„Sie haben recht“, sagte Rule ruhig.
„Ah!“ Die buschigen Augenbrauen zogen sich zusammen, und seine Stirn legte sich das erste Mal, seit Rule den Mann kannte, in Falten. „Ich habe gehört, dass Ihr Volk eine ganz besonders lebendige mündliche Überlieferung pflegt. Die Sie mit Außenstehenden nicht teilen.“
„Beides stimmt.“
Fagin betrachtete ihn einen Moment lang. „Ich würde gern versuchen, Ihre Meinung diesbezüglich zu ändern, aber das machen wir später. Es ist interessant, nicht wahr, dass Ihr Mr Brooks eine Task Force mit Akademikern und Praktizierenden zusammengestellt hat, die nicht an die konventionelle Lehrmeinung über die Säuberung glauben.“
Lily beugte sich vor. „Und was denken diese unkonventionellen Denker?“
„Im Grunde, dass während des sechzehnten Jahrhunderts die Menge an verfügbarer Magie abzunehmen begann. Vielleicht wurde sie von den Menschen verbraucht, so wie auch jede andere natürliche Ressource verbraucht werden kann. Vielleicht war das Absinken Teil eines ganz natürlichen Zyklus, eine Abnahme und ein Anstieg, die gelegentliche Dürreperioden mit sich brachten, so wie auch der zyklische Verlauf der Erderwärmung zu periodisch wiederkehrenden Eiszeiten führt. Das ist meine eigene Theorie.“
„Oder vielleicht“, sagte Ito, „hat der Codex Arcanum, als er verloren ging oder zerstört wurde, den größten Teil der Magie auf der Welt mitgenommen.“
Fagin lächelte. „Und das ist Itos Theorie, die auf seiner Interpretation des Nostradamus basiert. Auf jeden Fall deutet das, was wir jetzt erleben, darauf hin, dass unsere magische Eiszeit dem Ende zugeht.“
Einen Moment lang sagte niemand etwas. Rule dachte an das Energieversorgungsnetz, an den Aktienmarkt, an das Bankensystem … an die Luftfahrtkontrolle. Das Internet. Autos. Busse. Medizintechnik. Labors. Das alles war anfällig für ein plötzliches Ansteigen von Magie. „Wie gut isoliert Seide gegen Magie?“
Sherry antwortete mit sanfter Stimme: „Nicht gut genug.“ Wieder schwiegen alle. Dann schob Ito seinen Stuhl zurück. „Tut mir leid, ich muss gehen. Meine Frau kommt mit dem Flugzeug an, und ich muss sie abholen.“
Lily warf einen Blick auf ihre Uhr. „Es ist später, als ich dachte. Wenn Sie fürs Erste mit mir durch sind, würde ich gern schauen, ob Ruben immer noch da ist. Ich brauche Hilfe, um dem Secret Service ein paar Informationen zu entlocken.“
„Ich glaube, sehr oft geht er nicht nach Hause.“ Auch Fagin schob seinen Stuhl zurück. „Ich würde auch gern kurz mit ihm sprechen. Sollen wir ihn zusammen suchen? Wir könnten uns dabei über unsere jeweiligen Gaben austauschen.“
Sie sah Rule an. Aber sie sagte kein Wort. Er wusste, was sie wollte.
Er seufzte. „Was das Gift angeht …“
„Ja.“ Sherry runzelte ernst die Stirn. „Darüber müssen wir reden. Patrick?“
Lily berührte Rule leicht an der Schulter und stand dann auf. „Haben Sie je Magie gespürt, die … nun ja, böse schien?“, fragte sie Fagin, als die Tür sich hinter ihnen schloss.
Rule kam sehr schnell zu dem Schluss, dass er genauso gut mit Lily hätte mitgehen können. Sherry und der Erzbischof schienen ihn
Weitere Kostenlose Bücher