Wolfstage (German Edition)
vermissten jungen Frau aus Königslutter. Warum wird ein Zusammenhang
vermutet?«
»Wir wissen noch gar nicht, ob es tatsächlich einen Zusammenhang
gibt, aber die beiden kannten sich wohl zumindest flüchtig. Kati Lindner,
fünfundzwanzig Jahre alt, arbeitet in einer Buchhandlung in Königslutter und
ist seit knapp einer Woche spurlos verschwunden. Wiebor hatte auf ihren
Anrufbeantworter gesprochen und um Rückruf gebeten. So stellt sich die
Ausgangssituation dar.«
»Was spricht dafür, dass Wiebor keinen Unfall hatte?«, fragte Johanna
nach kurzem Überlegen.
»Sein Handy ist unauffindbar, ebenso Unterlagen, Notizen und so
weiter.«
»Laptop?«
»Hatte er nicht. Wenn er ins Netz wollte, ging er in ein Internetcafé.
Ansonsten störte ihn der Technikkram.«
Kann ich verstehen, dachte Johanna, aber manchmal kann der Technikkram
verdammt hilfreich sein.
»Wann können Sie hier sein, Kommissarin Krass?«
Johanna sah auf ihre Uhr. »Ich habe noch ein paar Kleinigkeiten zu
erledigen und muss meine Sachen packen. Rechnen Sie in vier, fünf Stunden mit
mir.«
»Das tue ich gern.«
Annegret Kuhl gehörte innerhalb der Staatsanwaltschaft
Braunschweig der Abteilung VIII an, die
unter anderem für organisierte Kriminalität und verdeckte Ermittlungen
zuständig war. Als Johanna am späten Nachmittag, gut fünf Stunden nach ihrem
Telefonat, an die Bürotür der Beamtin klopfte, war sie verschwitzt, müde und
entnervt von der langen Fahrt. Die Temperaturen bewegten sich zwar seit einigen
Tagen nicht mehr im hochsommerlichen Rekordbereich, aber Johanna fand es
trotzdem zu heiß. Sie sehnte sich nach einer Dusche und einem friedlichen Abend
irgendwo am Wasser, möglichst einsam. Nicht reden müssen, schon gar nicht über
Berufliches, Gedanken schweifen lassen, Schäfchenwolken zählen. Mit dem Kajak
schwerelos dahingleiten.
Annegret Kuhl rief sie nicht herein, sondern öffnete selbst die Tür
und empfing sie mit einem munteren Lächeln. Einen Moment lang war die
Kommissarin davon überzeugt, die Sekretärin vor sich zu haben, aber als sie die
Stimme der aparten Frau vernahm, war klar, dass es sich um die Staatsanwältin
höchstpersönlich handelte. Mein Gott, dachte Johanna, so jung habe ich nicht
mal mit fünfundzwanzig ausgesehen! Geschweige denn so attraktiv, gut gekleidet
und professionell geschminkt.
Aber hatte sie je Wert darauf gelegt? Allein die Frage erübrigte
sich. Johanna war klein und hager. Ihr Gesicht wurde von irritierend großen
blauen Augen beherrscht, ansonsten war es kantig und eintönig; ihr
Kleidungsstil verdiente kaum diese Bezeichnung. Johanna bevorzugte Jeans,
Pullover und bequeme Outdoorklamotten. Sie besaß keine einzige Handtasche und
schleppte ihren Kram meist in einem abgewetzten Lederrucksack durch die Gegend.
Wer das erste Mal mit ihr zu tun hatte, kam selten auf den Gedanken, eine
Kommissarin des BKA vor sich zu haben.
Seit sie fünfzig geworden war und in unregelmäßigen Abständen unter
Hitzewallungen litt, erwischte sie sich doch hin und wieder bei einem
kritischen Blick in den Spiegel. Sie hatte keine Angst vor Falten oder
Tränensäcken, geschweige denn grauen Haaren – Eitelkeit konnte ihr nun
wirklich niemand nachsagen. Was sie fürchtete, war die zunehmende Ähnlichkeit
mit ihrer Mutter. Sie hatte Gertrud Krass schon als verlebt und verbittert
empfunden, als sie noch zur Schule gegangen war und Suzi Quatro gehört hatte.
»Kaffee?«, fragte Kuhl, als sie in einer Sitzecke am Fenster Platz
nahmen.
»Gerne.«
»Hatten Sie eine gute Fahrt?«
»Nein, ich stand eine Stunde auf der A2 im Stau und bin entsprechend mies
gelaunt.« In Wolfsburg und Umgebung bin ich allerdings häufig mies gelaunt,
fügte sie in Gedanken hinzu.
»Kann ich verstehen. Werfen wir trotzdem einen Blick in die Akte?«
»Darum bin ich hier.«
Der Kaffee war gut, die Kekse schmeckten sogar exquisit – keine
billige Supermarktware. Ein klarer Pluspunkt für Kuhl. Johanna beschloss, sich
zu entspannen. Die Staatsanwältin war achtunddreißig Jahre alt, das hatte
Johanna unter anderem noch in Erfahrung gebracht, bevor sie das BKA in Berlin im Eiltempo verlassen hatte. Eine
Überfliegerin – gute Kontakte, beste Karriereaussichten, ehrgeizig bis zum
Abwinken, hieß es, aber auch unbürokratisch, loyal und fair zu ihren Leuten.
Nun, das würde sich noch zeigen.
»Lennart Wiebor hatte vor drei Tagen, am letzten Montag zwischen
Neindorf und Almke auf der L290 einen Motorradunfall. Sie kennen sich ja in der
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