Wolfstage (German Edition)
Staatsanwaltschaft Braunschweig hat mich kontaktiert. Es geht um einen
Fall, der unter Umständen neu aufgerollt werden muss, und wie so oft haben sie
weder vor Ort noch beim LKA Niedersachsen genügend freie Kapazitäten, um noch mal einen unvoreingenommenen
Blick auf die Sache zu werfen. Das übliche Problem.«
»Und um was genau geht es?«
Grimich drehte den Bürosessel um hundertachtzig Grad und griff sich
von einem hochgetürmten Stapel den obersten Hefter. »Hier ist die Akte. Sie
können sich gleich auf den Weg machen. Um ein Zimmer für Sie werden die
Wolfsburger sich kümmern, oder wollen Sie lieber bei Ihrer Familie
unterschlüpfen?«
Johanna stand auf. »Das kläre ich am besten vor Ort.«
»Tun Sie das. Und vergessen Sie nicht, Krass – ich will regelmäßig
über den Stand der Dinge informiert werden.«
»Wie könnte ich das vergessen?«
Magdalena Grimich schien einen Moment zu überlegen, ob es angemessen
war, auf Johannas Bemerkung einzugehen, oder ob es souveräner wirkte, darüber
hinwegzusehen. Sie entschied sich für Letzteres. Erstaunlicherweise. Johanna
nickte ihr zu und verließ den Raum. Wenige Minuten später saß sie zwei
Stockwerke tiefer mit einer großen Tasse pechschwarzem Kaffee und einer Packung
Schokoladenkekse an ihrem Schreibtisch und schlug die Akte auf.
Ihr Hang zu Süßigkeiten, mit denen sie ihre frühere Zigarettensucht
kompensierte, war gerade im Dienst ungebrochen – obwohl sie schon seit Jahren
nicht mehr rauchte. Glücklicherweise war sie kein Typ, der schnell zunahm, und
selbst wenn: Johanna gehörte nicht zu den Frauen, die mit achtundvierzig Jahren
entsetzt feststellten, dass die Hosengröße nicht mehr passte, die viele Jahre
lang perfekt gesessen hatte. An ihr saß ohnehin nichts perfekt und wenn doch,
würde sie es kaum bemerken, geschweige denn für wichtig erachten. Johanna
bevorzugte Jeans oder Outdoorhosen und Shirts, kombiniert mit Lederjacke oder
Weste, Cap und Trekkingschuhen, und ihre Stimme klang stets, als hätte sie zu
lange in der Kneipe gesessen und dabei nicht nur Hagebuttentee getrunken. Ihr
kantiges Gesicht wurde von übergroßen blauen Augen beherrscht, und jeder
Versuch, es mit Make-up weicher und milder erscheinen zu lassen, war bislang
gescheitert. Jedenfalls nach Johannas Ansicht. Sie verabscheute Hand-oder
Aktentaschen und schleppte ihre Utensilien stets in einem abgewetzten
Lederrucksack durch die Gegend. Wenn es kalt war, schlüpfte sie in
Fleecepullover und dicke Anoraks und zog unter ihrem Cap zusätzlich ein
Stirnband über die Ohren, was alles andere als apart aussah. Höchstens ziemlich
krass. Aber ihr Name war ohnehin Programm, und mit Ende vierzig hatte sie so
viel Weisheit errungen – zum Teil mühsam errungen –, dass sie sogar stolz auf
ihn war. Die wenigen Verehrer, die sich um sie bemühten, waren in ihren Augen
entweder lächerliche Versager, die Schutz bei ihr suchten, oder hatten nicht
genügend Ausdauer, um sich mit ihrer Kratzbürstigkeit zu messen und ihrer
bewusst gewählten Unweiblichkeit einen gewissen Charme abzugewinnen. Die
meisten Frauen hatten entweder Angst vor ihr oder verachteten sie. Einige
wenige waren neugierig, was sich hinter ihrer schroffen Art verbarg. Grimich
gehörte definitiv nicht dazu.
Johanna griff sich immer zwei Kekse auf einmal aus der Packung. Sie
kaute gleichmäßig, verstreute Krümel über den Tisch und spülte geräuschvoll mit
Kaffee nach, während sie sich in den Fall vertiefte. Nach fünf Minuten begann
sie langsamer zu kauen und hörte schließlich ganz auf. Fälle, bei denen es um
Kinder oder Jugendliche ging, waren die schlimmsten.
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