Wolfstage (German Edition)
Überraschung«, erklärte Reinders. Sein Tonfall konnte
bestenfalls als zurückhaltend freundlich beschrieben werden.
Johanna grinste. »Nicht wahr?«
»Nun, wir wissen natürlich, dass Sie mit dem Fall betraut und
unterwegs sind«, fügte er schnell hinzu.
»Wie schön. Ich bin bereits vor Ort, habe gerade mit Staatsanwältin
Kuhl gesprochen und möchte mir nun ein genaues Bild machen.«
»Wann?«
Johanna stutzte. »Wann was?«
Reinders räusperte sich. »Ich meine, wann möchten Sie mit uns
sprechen?«
»Nun, am besten natürlich sofort. Ich könnte in zwanzig Minuten –«
»Tut mir leid, aber die beiden Beamten, die mit dem Fall zu tun
haben und detailliert Auskunft geben können, sind nicht mehr im Haus«, wehrte
Reinders schnell ab. »Die Einzelheiten können Sie aber fürs Erste auch Ihrer
Handakte entnehmen, zumal noch nicht allzu viel passiert ist.«
Johanna atmete lautstark aus. »Also, wenn Sie mich fragen, ist eine
ganze Menge passiert: Mein Kollege liegt im Koma, und wir würden schon gern
zügig in Erfahrung bringen, warum. Darüber hinaus ist eine junge Frau, die
Wiebor kannte, spurlos verschwunden«, erwiderte sie in scharfem Ton. Reinders
ließ es offensichtlich mal wieder ziemlich gemütlich angehen.
»So meine ich das natürlich nicht, Frau Kollegin!«, beschwichtigte
Reinders. »Ich spreche lediglich von den bislang in die Wege geleiteten
Ermittlungen und davon, unsere Besprechung auf morgen zu verschieben.«
Johanna schwieg. Es war keine gute Idee, sofort auf
Konfrontationskurs mit dem Kollegen zu gehen.
»Sind Sie noch dran, Kommissarin Krass?«
»Na klar. Gut, Reinders – dann machen wir es anders: Ich ziehe einen
Besuch bei meinem verletzten Kollegen vor und fahre anschließend nach
Königslutter. Würden Sie bitte im Krankenhaus Bescheid sagen, dass der
behandelnde Arzt mir Auskunft erteilt?«
»Kein Problem. Ich kümmere mich sofort darum.«
»Gut, danke – wir sehen uns dann morgen.«
Darauf antwortete Reinders nicht mehr. Vielleicht verschlug ihm die
Wiedersehensfreude die Sprache. Johanna zog eine Grimasse und unterbrach die
Verbindung. Sie gab Gas. Der Beginn einer harmonischen Zusammenarbeit sah
anders aus.
Als sie ihre Visitenkarte bei der Stationsleitung
hinterlegt hatte und das Krankenhaus nach einer halben Stunde wieder verließ,
war Johanna erleichtert. Sie hatte nur kurz mit dem diensthabenden Arzt
sprechen können. Wiebors Zustand war aufgrund schwerer Kopf-und Rückenverletzungen
äußerst kritisch. Mehr ließ sich zum jetzigen Zeitpunkt nicht sagen. Johanna
hatte den Eindruck, dass der Arzt nur ungern eine Prognose stellen wollte, was
alles andere als ein gutes Zeichen war. Das Pflegepersonal war angehalten, niemanden
zu ihm zu lassen und etwaige Besucher sowie Anrufer, die sich nach ihm
erkundigten, sofort der Kripo zu melden. Doch bislang hatte niemand versucht,
etwas über Jonathan Maybach in Erfahrung zu bringen.
Johanna wusste nicht, ob Wiebor verheiratet war oder in einer festen
Beziehung lebte – sie vermutete jedoch, dass er wie viele verdeckte
Ermittler eher zur Kategorie der einsamen Wölfe gehörte. Das war auch besser
so. Sie mochte sich gar nicht erst vorstellen, dass unter Umständen eine junge
Ehefrau auf Lennarts Rückkehr wartete. Vielleicht sogar Kinder …
Johanna machte sich über die Nordsteimker Straße auf den Weg nach
Königslutter. Sie fuhr direkt an der Senioreneinrichtung ihrer Großmutter
vorbei. Käthe Krass würde demnächst ihren fünfundneunzigsten Geburtstag feiern.
Oder auch nur meckernd zur Kenntnis nehmen. Vielleicht ins Leere starren oder
plötzlich zu weinen anfangen. Vergnüglich lachen und Torte essen, bis ihr
schlecht wurde. Wieder nach einem kleinen Jungen namens Peter fragen, den
Johanna nicht kannte, aber Käthe für ihren zweiten Enkel hielt, doch Johanna
hatte keinen Bruder. Sie erinnerte sich nicht. Rasch wischte sie die Gedanken
beiseite. Keine Zeit für Familiengeschichten.
Der Weg über die Dörfer war nicht nur schöner als die
Autobahnstrecke, er führte auch über die L290, sodass Johanna Wiebors Unfallort
gleich in Augenschein nehmen konnte. Die lang gestreckte Kurve hinter Almke und
kurz vor Neindorf war ein in der Gegend bekannter Unfallschwerpunkt. Nicht
umsonst war hier nur achtzig erlaubt.
Johanna fuhr betont langsam, bremste ab und stellte ihren Wagen an
einem holprigen Feldweg ab. Sie fischte die Unfallskizze aus der Akte und
verließ den Wagen. Außer einigen Bremsspuren gab es nichts
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