Trauerspiel
Julia lief die Stufen neben der Martinusschule hinunter. Sie wartete eine Lücke zwischen den Autos ab, die in Richtung Kino unterwegs waren – die Spätvorstellungen würden bald beginnen, und überquerte die Straße. Wenige Schritte weiter war sie in der Altstadt. In den Gassen hinter der Augustinerstraße war jetzt kaum noch ein Mensch zu sehen. Julia brauchte nicht stehen zu bleiben, um sich zu orientieren. Sie kannte die Gegend seit ihren Kindertagen. Mit ihren Freunden hatte sie Verstecken in den Höfen und engen Gässchen der Altstadt gespielt. Den Weg zu St. Johannis war sie unzählige Male gelaufen: an der Hand ihrer Mutter und ihres Vaters auf dem Weg zum Sonntagsspaziergang am Rhein, unterwegs zur Schule, vor drei Jahren jeden Dienstag zum Konfirmandenunterricht. Die Häuser im Viertel hatten ihre Ursprünglichkeit bewahrt, ein französisch anmutendes Ambiente. Sonst genoss es Julia, die besondere Luft in der Altstadt zu schnuppern, sie mochte es, durch die Butzenscheiben der Weinstuben zu spähen, um einen Blick in die Gaststuben zu erhaschen. Manchmal blieb sie auch stehen und lauschte auf die Wortfetzen, die durch die im Sommer gekippten Fenster drangen. Für einen Besuch in einem solchen Lokal war sie mit ihren 17 Jahren allerdings zu jung – eine Mainzer Weinstube war nicht die Lokalität, die ein Mädchen ihres Alters bevorzugt hätte. Mit ihren Freundinnen ging sie manchmal abends in die angesagten Cafés, allerdings nicht zu lange, dazu waren ihre Eltern viel zu besorgt und achteten auf ihre Tochter. Aber Julia war auch nicht der Typ, der gerne trank. Sie war viel zu ernsthaft dafür und musste für die Schule viel zu viel tun, als dass ihr die Zeit für ausgedehnte Kneipenbesuche geblieben wäre.
Ihre Schritte hallten auf dem Pflaster. Julia beeilte sich. Sie hatte es dringend gemacht bei Pfarrerin Hertz, wollte unbedingt noch einen Gesprächstermin an diesem Abend, wenn es möglich sei. Und Pfarrerin Hertz hatte ihr versprochen, nach dem Bibelabend in der Johanneskirche auf sie zu warten. Julia wollte sie auch nicht warten lassen. Aber vor lauter Grübeln war ihr die Zeit davongelaufen, und jetzt war sie knapp dran. Es hatte lange gedauert, bis sie sich zu dem Anruf bei Frau Hertz durchgerungen hatte. Es war einfach zu unglaublich, zu fremd, sie mochte es auch gar nicht bis zum Ende durchdenken, was es bedeuten konnte. Aber wenn sie es nicht mit einem Menschen besprechen könnte, würde sich alles wie Säure in ihre Seele brennen. Schon jetzt wälzte sie sich jede Nacht unruhig hin und her und brauchte lange, um einzuschlafen. In der Schule fiel es ihr schwer, sich auf den Stoff zu konzentrieren. Sie musste Klarheit finden, für sich – und für alles …
Julia seufzte laut, während sie nachdenklich in Richtung St. Johanniskirche lief. Ein Pärchen, das eng umschlungen durch die Nacht schlenderte, drehte sich neugierig nach ihr um, sie merkte es gar nicht. Ihre Füße führten sie wie von selbst. Sie eilte am Bestattungsinstitut vorbei und blickte auf die Uhr: 22.30 Uhr, das ging ja gerade noch. Eine Gestalt löste sich aus dem Schatten vor der Eingangstür der St. Johanniskirche und trat ihr in den Weg. Erschrocken wich Julia einen Schritt zurück.
«Du brauchst doch keine Angst zu haben, an so einem schönen Vollmondabend!»
Eine Hand wies zum Mond, der hell über der Kirche leuchtete. Julia schaute automatisch nach oben. Die weiße, leuchtende Scheibe des Mondes war das letzte, was sie sah. Sie spürte kaum den Einstich der rasiermesserscharfen langen Stahlnadel, die sie direkt ins Herz traf. Die Arme, die sie in den Vorhof der St. Johannisgemeinde zerrten, die Hände, die ihren Rock hochschoben und ihr Höschen zerrissen, spürte sie nicht mehr. Sie starb leise, keiner der Passanten, die wenige Meter entfernt über den Leichhof flanierten, hörte ihren letzten Atemzug. Die Gestalt, die Julias Körper hinter die kleine Betonmauer gelegt und das eiserne Gartentor zur Straßenseite hin vorsichtig geschlossen hatte, verschmolz mit der Dunkelheit und atmete leise. Ein Mann lief vorbei, selbst wenn er in Richtung Kirche geschaut hätte, hätte er nichts sehen können. Diese dunkle Ecke an der Kirche verlockte auch nicht zum Hinschauen. Die Gestalt wartete noch einen Moment. Dann zog sie vorsichtig die Stahlnadel aus der Brust des Mädchens. Sanft, fast zärtlich, berührten Hände ihre Augen und zogen die Lider über die starre Iris.
* * *
Pfarrerin Susanne Hertz schaute auf ihre
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