Wolken über dem Meer: Roman (German Edition)
Sonnenveranda bequem – mit einem Buch und ihrem Stickbeutel. Rose hatte noch vor Beginn der Sommerferien mit einer Stickarbeit für die Schule begonnen und fühlte sich zum ersten Mal kräftig genug, sie fortzusetzen. Lily küsste sie auf den Scheitel und kehrte in die Küche zurück. Der Ausdruck in Patrick Murphys Augen weckte in ihr das Gefühl, als sollte sie gleich verhaftet werden.
»Was ist? Wollen Sie mir Handschellen anlegen?«, fragte sie.
»Nie im Leben«, beteuerte Marisa. »Wir haben nichts verbrochen. Im Gegensatz zu Edward.«
»Edward?« Lily spürte, wie ihr Rücken zu kribbeln begann.
»Ted«, erwiderte Marisa.
»Ted – das ist dein Mann.«
Ted, Edward, dachte Lily, und plötzlich nahm sie den dumpfen Schmerz in Marisas Augen wahr. Bitte lass das alles nicht wahr sein, flehte sie stumm. »O nein.«
»Was hat Sie bewogen, ausgerechnet auf Cape Hawk Zuflucht zu suchen?«, fragte Patrick.
»Das ist eine lange Geschichte. Ich denke, Sie kennen bereits das meiste. Sie haben den Zeitungsartikel über den Gedenkstein für das Fährunglück gelesen. Der Rest hat mit einer Lüge zu tun, die mein Mann zu erzählen pflegte – um alle Welt glauben zu machen, er sei der Nachfahre eines Schiffskapitäns.«
»Der Walfänger«, warf Marisa ein. »Mit der von Eis bedeckten Takelage. Und den Klippen des Fjords im Hintergrund.«
»Das darf doch nicht wahr sein!« Lily wurde kreidebleich. »Du warst mit Edward Hunter verheiratet?«
Marisa nickte.
»Wusstest du nicht, dass er unter dem Verdacht stand, seine Frau ermordet zu haben?«, flüsterte Lily.
»Nein. Ich hatte keine Ahnung, bis gestern Abend. Du bist seit neun Jahren verschollen. Ich muss den ganzen Rummel zu Anfang verpasst haben, weil ich Jessica erwartete – sie ist am gleichen Tag wie Rose geboren, aber es war eine schwierige Schwangerschaft, und ich lag die ganze Zeit im Krankenhaus. Ich erinnere mich vage, gehört zu haben, dass eine schwangere Frau in Connecticut verschwunden war – aber ich konnte den Gedanken an diesen Fall nicht ertragen. Da ich selber ein Kind erwartete, wollte ich mir lieber nicht vorstellen, was dir zugestoßen sein könnte.«
»Seltsam, dass Jessica und Rose beinahe am gleichen Tag geboren sind!«
»Finde ich auch.« Marisa ergriff Lilys Hand. »Rückwirkend frage ich mich natürlich, ob das nicht auch zu seinem Plan gehörte. Ted, oder Edward, kannte meinen verstorbenen Mann aus dem Golfclub. Er hatte einige Aktiengeschäfte für uns getätigt – und Zugang zu allen möglichen Informationen über unsere Familie erhalten, einschließlich der Geburtsdaten. Mein Mann war ganz begeistert von ihm. Deshalb beschloss ich, Teds Dienste nach Pauls Tod weiterhin in Anspruch zu nehmen. Ich übertrug ihm die Verwaltung des Fonds, in dem die Erbschaft angelegt werden sollte – und wenn ich mich recht erinnere, hat er bei dieser ersten persönlichen Begegnung eine Bemerkung über Jessicas Geburtstag gemacht.«
»Tatsächlich?«
Marisa nickte. »Er meinte, eine gute Bekannte habe höchstwahrscheinlich genau um diese Zeit ebenfalls ein Kind bekommen – und Kinder wären für ihn ein Geschenk des Himmels.«
»Geschenk des Himmels!«, entrüstete sich Lily.
»So drückte er es aus.«
»Er hat dir etwas vorgemacht.« Lily holte tief Luft, umarmte Marisa und spürte, dass sie beide wie Espenlaub zitterten. »Genau wie mir.«
»Wir hätten ihn um ein Haar erwischt«, sagte Marisa. »Patrick hat gestern Abend seinen Freund beim FBI angerufen und auf Ted angesetzt – wegen einer weiteren Gaunerei, im Internet. Doch heute Morgen rief er Patrick an, um ihm mitzuteilen, dass Teds Account gelöscht worden sei und das Forum kein Archiv hat, um alte Nachrichten zu speichern.«
»Stimmt«, pflichtete Patrick ihr bei. »Wir müssen ihn auf andere Weise drankriegen. Aber das ist im Moment unwichtig. Mara, Lily …«
»Lily, bitte. Mara gehört der Vergangenheit an. Doch daran kann ich im Augenblick nicht denken.«
»Ich fürchte nur, Sie müssen. Es gibt leider keine andere Möglichkeit, es Ihnen schonend beizubringen.«
»Was ist passiert?« Liam trat einen Schritt näher, legte schützend den Arm um Lily.
»Es geht um Ihre Großmutter. Ich habe heute Morgen mit Clara Littlefield telefoniert; Maeve hatte offenbar vor drei Tagen zu Hause einen Schlaganfall. Die Ambulanz brachte sie ins Shoreline General, und seither liegt sie im Koma.«
»O Gott, Granny!« Lily brach in Tränen aus. »Das darf doch nicht wahr
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