Wolken über dem Meer: Roman (German Edition)
sie zu, und Lily versicherte ihr, dass sie im Gästezimmer nebenan schlafen werde.
»Und wo schläft Dr. Neill?«
»Mein Zimmer ist unten. Aber ich höre euch, falls ihr etwas braucht.«
»Danke.« Rose schlang die Arme um seinen Hals und gab ihm einen Gutenachtkuss. Dieses Kind in seine Obhut zu nehmen, das so viel durchgemacht hatte, bewegte Liam zutiefst.
Nachdem Rose versorgt war, ging er mit Lily nach unten in die Küche. Er stellte den Wasserkessel auf den Herd, dann drehte er sich um und sah sie an. Sie stand reglos da, an die Frühstückstheke gelehnt. Ihr Zobelhaar schimmerte im Schein der Lampen. Er ging zu ihr, hob ihr Kinn und küsste sie so, wie er es sich schon den ganzen Tag gewünscht hatte.
Sie waren ausgehungert nach einander – für Liam eine völlig unbekannte Erfahrung. Sie fühlten sich losgelöst vom wirklichen Leben, als gäbe es nur noch sie beide auf der Welt. Doch die Realität war so tiefreichend und mächtig, und Liam wusste, dass er einen kühlen Kopf bewahren musste.
»Alles in Ordnung?«, fragte er.
»Ich denke schon. Nur in meinem Kopf geht alles drunter und drüber. Roses Operation ist so gut verlaufen, dass es einem Wunder gleicht, und dann kehrt man nichts ahnend nach Hause zurück und wird von der Vergangenheit eingeholt.«
»Wie hat er dich gefunden?«
Lily blinzelte, sah lächelnd auf ihre Füße. Liam hatte befürchtet, dass sie außer sich wäre, einer Panik nahe, aber das schien ganz und gar nicht der Fall zu sein. »Meine Großmutter.«
»Wusste sie Bescheid?«
Lily nickte. »Sie wusste nicht, wohin ich wollte, aber ich musste mich wenigstens von ihr verabschieden. Mich ohne ein Wort aus dem Staub zu machen, das hätte ich ihr nicht antun können. Sie hat mich erzogen, hat einen selbstbewussten Menschen aus mir gemacht. Sie ist die klügste, wunderbarste Frau der Welt. Ich dachte, ich sei imstande, jede Herausforderung zu meistern.«
Liam hörte aufmerksam zu, sah das Funkeln in den geliebten blauen Augen.
»Aber das war ein Trugschluss. Edward war ich nicht gewachsen – nicht in dem Zustand, in dem ich war. Er hätte mich niemals gehen lassen, und es kam nicht in Frage, meine Tochter unter seiner Fuchtel aufwachsen zu lassen.«
»Ich erinnere mich, dass du schon vorher wusstest, dass es ein Mädchen war, in der Nacht, als sie geboren wurde. Du hast mir die Arme entgegengestreckt und gemeint ›Gib sie mir‹, bevor ich dir sagen konnte, was es war.«
»Ja, ich weiß. Ich musste etliche Ultraschalluntersuchungen machen lassen. Ich sagte ja, er hat mich immer wieder angerempelt. Und mir die Schuld gegeben, mir einzureden versucht, ich sei plump und ungelenk. Trampeltier hat er mich genannt.«
»Ich bringe ihn um«, erwiderte Liam, und er meinte es todernst. Hass und Wut loderten in ihm auf – Gefühle, die ihm bisher fremd gewesen waren. Nicht einmal Haien gegenüber hatte er ein solches Ausmaß an Hass verspürt – damals, als er jung gewesen war und nichts über das Verhalten und die Raubzüge dieser Spezies wusste.
»Ich konnte nicht zulassen, dass er Teil von Roses Leben wurde«, fuhr Lily fort. »Wenn ich bis nach der Geburt gewartet hätte, wäre es wegen des Sorgerechts noch schwieriger geworden. Nicht, dass er sie gewollt hätte – sie interessierte ihn nicht. Daran ließ er keinen Zweifel. Aber ich wusste, er hätte sie benutzt, um mir die Daumenschrauben anzusetzen. Er hätte uns beiden das Leben zur Hölle gemacht, und ich weiß, wovon ich rede. Edward ist nur zufrieden, wenn er anderen Schmerz zufügen kann.«
»Was für ein Mensch tut denn so was?«
»Ein Mensch ohne Gewissen und Mitgefühl«, erwiderte Lily beherrscht. »Und das ist noch nicht alles. Edward ist ein Mörder.«
»Was willst du damit sagen?«
»Ich werde es dir irgendwann erzählen. Nicht heute Abend, aber bald.«
»Und deine Großmutter wusste das?«
Lily nickte. »Das meiste. Genug jedenfalls, um mir bei der Flucht zu helfen.«
»Hat sie dir den Tipp mit Cape Hawk gegeben? Um hier unterzutauchen?«
»Nein. Darauf bin ich selber gekommen. Es besteht nämlich eine Verbindung zwischen Camille und mir und Camille und Edward.«
»Sprichst du von meiner Tante? Camille Neill?«
»Ja. Meine Eltern starben bei demselben Fährunglück wie ihr Mann, Frederic. Ich habe alle einschlägigen Zeitungsartikel aufgehoben, einschließlich der Meldung über die Stiftung der Gedenktafel. Wofür ich ihr sehr dankbar bin.«
»Sie wird sich freuen, das zu hören.«
Lily lächelte.
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