Wolken über dem Meer: Roman (German Edition)
wirkenden Nova-Scotia-Kiefern schienen das Steinhaus emporzuheben und hoch über ihr Geäst dem Himmel entgegenzustrecken – Sonnenlicht wurde von dem weitläufigen Schindeldach zurückgeworfen. Singvögel, gerade erst von ihrer langen Reise nach dem Süden zurückgekehrt, zwitscherten in den Bäumen. Doch trotz Sonnenschein, Vogelgezwitscher und der Hoffnung, Dr. Neill wiederzusehen, war der Pfad, der zu seinem Haus hinaufführte, einfach zu steil.
»Kommst du?«, drängte Jessica.
Rose beugte sich nach vorne, die Hände auf den Knien, und ruhte sich einen Moment aus. »Lass uns lieber zum Laden meiner Mutter gehen. Sie hat bestimmt einen kleinen Imbiss für uns, und vielleicht bringt sie uns ja bei, die Anfangsbuchstaben unserer Namen zu sticken.«
»Angsthase!« Aber Rose merkte, dass Jessica eigentlich erleichtert aussah, weil sie nicht die dunkle, unheimliche Anhöhe hinaufgehen mussten. Rose zuckte mit den Schultern, als wäre sie ganz ihrer Meinung. Sie blieb auf ihre Knie gestützt stehen, um ihre Kräfte zu schonen.
»Dann los. Wir sind Fußballerinnen. Ich spiele dir einen Pass zu; mal sehen, wie deine Ballführung ist.«
Jessica kickte den Kieselstein erwartungsvoll in ihre Richtung, damit Rose ihn wie eben noch vor sich herschießen würde. Rose machte Anstalten zu dribbeln, aber der Heimweg war weit, und das Flattergefühl in ihrem Herzen wurde zunehmend schlimmer. Sie schaute auf ihre Hände hinab und merkte, dass Jessica ihrem Blick folgte. Ihre Finger waren blau, und Jessica erschrak zu Tode.
»Rose!«
»Ich friere nur. Das ist alles.«
»Aber es ist heiß hier draußen!«
Einer Panik nahe, kickte Rose scheinbar versehentlich den Kieselstein in die Büsche. Jessica schrie ungläubig auf, dann begann sie, den Hügel hinunterzulaufen, in Richtung Hafen.
»Komm, beeil dich!«, rief sie.
Rose hätte sich gerne eine Weile hingesetzt, aber sie konnte es nicht ertragen, dass Jessica sie so sah. Jessica war ihre neue Freundin und wusste nicht, was mit ihr los war … Jetzt geht es nur noch bergab, spornte sie sich an. Das schaffe ich … Sie spähte in die kleine Hafenstadt hinunter und richtete den Blick fest auf den Laden ihrer Mutter. Dann holte sie tief Luft und setzte sich in Bewegung.
Cape Hawk gehörte nicht zur Kategorie der malerischen Fischerorte, in denen sich die imposanten, einst von Seekapitänen bewohnten Häuser reihten. Die Gehsteige aus Pflastersteinen waren nicht von anmutigen Ulmen überschattet. Und auch die Kais hatten sich nicht als Magnet für lange schneeweiße Yachten mit ihren gut betuchten Eignern oder Seglern erwiesen. Die Stadt konnte lediglich mit einem schmucken Hotel und einem Campingplatz als Herberge für Reisende aufwarten. Die ansehnlichsten Häuser befanden sich im Besitz einer einzigen Familie, derselben, die auch das Hotel und sämtliche Walbeobachtungsboote ihr Eigen nannte.
Dieser kleine entlegene Vorposten von Nova Scotias Treibnetzfischer-Flotte hatte nur vier Straßen: die Church Street, die School Street, die Water Street und die Front Street. Frostschäden rissen die Gehsteige immer wieder auf, und der Meereswind wehte so beständig und erbarmungslos, dass nur die widerstandsfähigsten Kiefern und verkrüppelten Eichen dem fortwährenden Angriff standzuhalten vermochten. Keiner der Seekapitäne war bei dem harten Leben in diesen Gewässern reich genug geworden, um Häuser zu bauen, die einer Anmerkung wert gewesen wären – mit einer Ausnahme: Es gab einen Mann, der gleich drei Häuser errichten ließ, für sich selbst und seine beiden Kinder. Dieser Mann war Tecumseh Neill.
Das eine Haus unten am Kai war 1842 erbaut worden, nach Captain Neills dritter Reise auf seinem Schiff Pinnacle, rund um Cape Horn. Einer Legende zufolge, deren die Stadt sich rühmte, hatte er während seiner letzten Lebensjahre nur noch einen einzigen Wal verfolgt, doch drei Fahrten zuvor hatte er mit großem Erfolg Wale gefangen und ihr Öl in New Bedford und Halifax verkauft, bevor er sein Haus auf Cape Hawk errichten ließ.
Mit seinen strahlend weißen Schindeln, den schwarzen Fensterläden und der roten Eingangstür besaß dieses ›Stadthaus‹ drei Stockwerke und darüber hinaus ein Dachgeschoss mit einem zusätzlichen Zimmer, das auf den Golf von St. Lawrence hinausging. Das Gebäude hatte sich, genau wie die beiden anderen von ihm erbauten, stets in Familienbesitz befunden und wurde von einer Generation zur nächsten weitergereicht. Zwei Jahrhunderte lang war
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