Wolken über dem Meer: Roman (German Edition)
Haien. Ein düsterer, verschlossener Mensch, der mehr Zeit mit Haien als mit Menschen verbrachte – da erübrigte sich wohl jedes weitere Wort.
Aber es war nur der Fahrer von FedEx, der ein Paket in Liams Büro ablieferte.
Lily legte den Hörer auf. Sie setzte sich hin und nahm ihre eigene Stickarbeit wieder auf – eine Gewohnheit, die ihre beruhigende Wirkung nie verfehlte. Vielleicht hatte Rose das Telefon nicht gehört. Sie war womöglich draußen und fütterte die Enten. Oder sie war bei einer Freundin und hatte vergessen, ihr Bescheid zu sagen. Es gab viele einleuchtende Erklärungen …
Als die Ladentür geöffnet wurde, fuhr sie herum. Es war Jessica. Sie war im gleichen Alter wie Rose, doch um einiges größer; sie stand in blaukarierten Hosen und gelbem T-Shirt außer Atem auf der Schwelle und winkte Lily herbei.
»Was gibt es denn, Jessica?« Lily war aufgesprungen. »Ist etwas passiert?«
»Rose – irgendetwas stimmt nicht mit Rose, sie kann nicht gehen, ihre Finger sind ganz blau, und sie musste sich hinsetzen!«
»Wo ist sie?«
»Draußen auf dem Platz, neben dem Fischerdenkmal.« Jessica brach in Tränen aus, aber Lily hatte keine Zeit, sie zu beruhigen; sie war bereits aus dem Laden gerannt, so schnell ihre Beine sie trugen.
Rose saß auf der Mauer, lehnte sich gegen die Statue. Es kostete sie unendliche Mühe, den Kopf hochzuhalten, deshalb ließ sie ihre Stirn auf die Knie sinken. Ihr Brustkorb war wie zugeschnürt, und bei jedem Atemzug brannte ihre Lunge, als würde sie die Luft durch einen Strohhalm einziehen. Noch bevor Jessicas Schritte verhallt waren, hörte sie, wie jemand zu ihr lief, und an den schweren großen Stiefeln auf dem Boden erkannte sie, dass es nicht ihre Mutter sein konnte.
Es war der Meeresforscher, Dr. Neill; auf seinen Stiefeln glitzerten Fischschuppen. Im Sonnenlicht glichen sie zerbrochenen Glasscherben, feurig funkelnd und schillernd wie ein Regenbogen. Er kauerte sich neben sie, und sie spürte seine Hand auf ihrem Scheitel. »Keine Angst, deine Mutter ist schon unterwegs. Entspann dich einfach und versuch, tief durchzuatmen; schaffst du das?«
Rose nickte, öffnete den Mund und holte tief Luft. Sie wusste, der Anfall würde vorübergehen und alles würde gut werden; das war immer so, aber diese Zustände machten ihr Angst. Ihre Gedanken eilten voraus, zum nächsten Schritt in der bekannten Abfolge. Sie stellte sich die Ärzte vor, Boston, die Notaufnahme der Klinik. Das stand ihr nun wieder bevor, das war sicher. Sie war nicht einmal neun, doch sie hatte das schon so oft durchgemacht, dass sie beinahe ihr eigenes Krankenblatt schreiben konnte.
Dr. Neill berührte ihre Stirn. Sie schloss die Augen. Seine Hand war kühl. Nun glitt sie zu ihrem Handgelenk, fühlte ihren Puls. Vielleicht beängstigte ihn das, was er spürte. Sie wusste, dass viele Leute so reagierten. Sie sah ihn an. Er jagte auch manchen Leuten Angst ein. Das hatten sie also gemeinsam. Er lächelte nicht, aber mit solchen Dingen war ja auch nicht zu spaßen.
Einmal hatte eine Lehrerin ihr einen heftigen Stoß versetzt, damit sie sich hinlegte, obwohl es besser gewesen wäre, wenn sie ihre zusammengekauerte Stellung beibehalten und abgewartet hätte. Ein anderes Mal war die Mutter eines Mädchens in Panik geraten und mit ihr schnurstracks die weite Strecke bis Telford ins Krankenhaus gefahren, obwohl Rose ihr immer wieder zu erklären versucht hatte, dass dies nicht nötig sei. Der Ozeanograph tat nichts dergleichen. Er wirkte sehr besonnen, als wüsste er, dass sich manche Probleme nicht so leicht beheben ließen.
Er hockte vor ihr auf den Fersen und hielt ihre Hand.
Es gelang ihr, Ruhe zu bewahren. Sie sahen sich an, während sie ein- und ausatmete. Sie bemühte sich, nicht zu blinzeln, wollte nur in seine tiefblauen Augen blicken. Haie schwammen in Gewässern, die so dunkel waren wie seine Augen, aber sie fürchtete sich nicht. Er blinzelte einmal, zweimal, ohne zu lächeln.
»Geh nicht weg«, bat sie.
»Nie im Leben.«
»Ich möchte, dass meine Mommy kommt.«
»Sie ist schon unterwegs; sie wird gleich hier sein …«
»Ich möchte, dass Nanny kommt.«
»Das wünschen wir uns alle. Sie ist auch schon unterwegs. Sie hat mir heute Morgen Bescheid gegeben, dass sie sich auf dem Weg hierher befindet.«
»Wegen meines Geburtstags?«
Dr. Neill zuckte zusammen, und seine Augen blitzten bei der Erwähnung ihres Geburtstags. Obwohl die Boote sich im Besitz seiner Familie befanden
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