Wolken über dem Meer: Roman (German Edition)
Grund, warum wir nach Cape Hawk gezogen sind, weit weg von der Luftverschmutzung und den ganzen Schadstoffen. Zumindest erzählt das meine Mutter jedem, der es hören will. Aber vielleicht …?«
»Vielleicht was?«
»Vielleicht ist der wahre Grund für unseren Umzug ein weiteres, angsteinflößendes Geheimnis.« Sie zog Rose an einem ihrer Zöpfe und deutete auf das Herrenhaus oben auf dem Hügel. Rotwildspuren führten durch das dichte Unterholz in den Kiefernwald, der das imposante Gebäude aus Naturstein umgab, in dem der Meeresforscher lebte. »Komm, wir schleichen uns hinauf und spähen Captain Hook aus.«
»Ich finde, das ist keine gute Idee.« Rose spürte abermals das sonderbare Flattern. »Vor allem, weil er mit uns befreundet ist und meine Mutter ihren Laden direkt neben seinem Büro hat.«
»Ja, aber das ist unten am Kai und weit weg. Sie hat vermutlich keinen blassen Schimmer, was in seinem großen gespenstischen Haus vor sich geht. Was wäre, wenn er in Wirklichkeit ein verrückter Wissenschaftler ist und wir sie vor ihm retten müssen? Oder ein richtiger Pirat, mit einem Namen, der Captain Hook alle Ehre macht?«
»Er heißt Dr. Neill.« Rose wusste, dass die Kinder ihn Captain Hook nannten, aber sie tat das nie. Sie hatte längst begriffen, dass Menschen auf jede nur erdenkliche Weise verschieden waren. Es gefiel ihr, dass Dr. Neill und sie einiges gemein hatten, und es stimmte sie traurig, wenn sich die Kinder über ihn lustig machten. Er war groß und wortkarg, hatte dunkle Haare, tiefliegende Augen und einen schmalen Mund, der nie lächelte. Außer, wenn er mit ihr und ihrer Mutter beisammen war.
»Ich finde es unheimlich, dass sich der schöne Laden deiner Mutter direkt neben seinem Büro befindet. Ein einarmiger Mann, der sein Leben mit der Jagd auf Haie verbringt …« Sie erschauerte. »Obwohl die restliche Familie ganz nett ist, mit ihren Walbeobachtungsbooten.«
»Auf einem dieser Boote findet meine Geburtstagsparty statt, Walbeobachtung eingeschlossen.«
»Ich weiß. Ich kann es kaum noch erwarten. Weil es auch mein Geburtstag ist.«
»Nein! Das ist ein Scherz, oder?«
»Vielleicht … vielleicht aber auch nicht.«
Rose stellte sich eine der Anschlagtafeln in ihrem Klassenzimmer vor, geschmückt mit bunten Kästchen, in denen die Geburtstage sämtlicher Mitschüler verzeichnet waren. Jessicas war im August.
»Das ist wohl ein Scherz! Du bist am 4. August geboren – steht ja auf dem Schwarzen Brett.«
Jessica lächelte. »Jetzt hast du mich erwischt. Also gut, dann feiert nur eine von uns beiden am Sonntag Geburtstag. Und du bist die Glückliche!«
»Ich hoffe, dass Nanny bis dahin zurück ist. Sie war an meinem Geburtstag immer hier.«
»Wer ist Nanny?«
»Du wirst sie schon noch kennenlernen.«
»Werden wir wirklich Wale zu Gesicht bekommen?«
»Bestimmt. Sie kommen jeden Sommer. Das ist ihr Zuhause, genauso wie unseres.«
»Ist Neills Familie deshalb so reich? Weil ihnen die vielen Walbeobachtungsboote gehören?«
»Wahrscheinlich.« Roses Finger fühlten sich mit einem Mal taub an. Ihre Lippen kribbelten wie verrückt. Die Straße stieg langsam an, bis die Ostkurve kam. Sie hatten den Gipfel der Anhöhe fast erreicht. Sobald sie oben angelangt waren, ging es nur noch bergab.
»Mein Stiefvater sagt, Wale sind nichts weiter als zu groß geratene Fische, und Leute, die Geld dafür ausgeben, um sie zu beobachten, haben nicht mehr alle Tassen im Schrank. Einer seiner Vorfahren war Walfänger und ist damit stinkreich geworden.«
»Wale sind keine Fische, sondern Säugetiere.« Rose musste sich auf jeden einzelnen Schritt konzentrieren. »Sie atmen Luft, genau wie wir.«
Hohe Felsenklippen umschlossen die kleine Stadt – ausgehend von dem großen weißen Hotel erstreckten sie sich bis zur Landzunge, die in die schützende, zum Golf von St. Lawrence führende Bucht hineinragte. Der eisige Lyndhurst River floss an den Felswänden hinab, kerbte einen gezackten Pfad in die Steilhänge und bildete einen Fjord. Rose hatte in der Schule gelernt, dass dieser ganze Bereich während der Eiszeit entstanden war, dass die Felsen von einem Gletscher stammten und der Fluss, der in die Bucht mündete, zahlreiche Fische anlockte, so dass sich dieses Gewässer auch bei Walen und Robben großer Beliebtheit erfreute.
»Komm«, sagte Jessica plötzlich, ergriff Roses Hand und zog sie zu einer Rotwildspur, die zu Dr. Neills Haus hinaufführte. Rose hob den Blick. Die stämmig
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