Zärtlichkeit des Lebens
1
Es war ein makelloses, harmonisches Gebäude. Die ersten fünf Stockwerke glichen einem Kubus, durchwirkt von einer Fensterfront, und auf diesem Sockel erhob sich ein gläserner Turm, der dank seiner Lichtdurchlässigkeit und trotz seiner fünfzig Stockwerke filigran wirkte. Fast schwerelos schien er den azurblauen Himmel zu durchschneiden.
Sarah stand unter der gleißenden Sonne, beschattete sich mit einer Hand die Augen und legte den Kopf weit in den Nacken, so daß sie das oberste Stockwerk sehen konnte. Ihr Gesicht spiegelte jene Sammlung und Bewunderung wider, die man bei Kunststudenten beobachten kann, die das Werk eines alten Meisters betrachten. Sie empfand die künstlerische Vollendung, die sich in der Grazilheit des emporstrebenden Turms, der Anmut der horizontalen Linie, dem perfekten Zusammenspiel von Form und Funktion ausdrückte. In seiner Höhe und Schlankheit lag Eleganz – und auch Kraft. Sie erkannte Macht darin. Sarah schätzte Macht sehr, ungeachtet dessen, ob sie einem unbelebten Gegenstand oder einem Lebewesen zueigen war. Ihr eigenes Machtbewußtsein hatte sie ihr ganzes Leben lang kultiviert.
Sie war das Kind ruhiger, durchschnittlicher Eltern. James Lancaster war Kinderarzt gewesen, ein hochgewachsener, hagerer Mann, bei Sarahs Geburt fünfunddreißig Jahre alt. Er hatte rostbraunes Haar, kluge Augen, eine lange, dünne Nase und einen großen Mund mit schmalen Lippen. Sarah erinnerte sich an ihn als an einen Mann mit behutsamen Händen, der häufig lächelte. Ein Mann ohne List und Tücke.
Penelope Lancaster, die zehn Jahre jünger als ihr Mann war, glich ihr Konto jeden Monat bis auf den Pfennig genau aus; donnerstags studierte sie die Sonderangebote in der Zeitung. Sie führte ihren Haushalt in New Rochelle mustergültig und strich alle zwei Jahre eigenhändig die Fensterläden. Obwohl klein von Statur, hatte sie überraschend lange Beine und feste, gut entwickelte Brüste. Ihr Gesicht war klassisch oval geschnitten und rosig überhaucht, ihre Augen groß und grün. Im Ganzen eine jener natürlichen blonden Schönheiten, die bis ins hohe Alter ansprechend bleiben.
Dem Zusammenwirken der Gene dieser beiden freundlichen, gutaussehenden Menschen war die sprühende, atemberaubende Schönheit ihrer Tochter zu verdanken. Ihr Gesicht hatte die gleiche Form wie das ihrer Mutter, ihr Teint war eine Mischung aus der hellen Haut ihres Vaters und der blühenden Frische ihrer Mutter. Sie hatte einen großen Mund mit einer Leidenschaft verheißenden vollen Unterlippe. Ihre schöne, gerade und klar gemeißelte Nase verlieh ihrem Provil etwas Ägyptisches. Die großen, mandelförmigen Augen mit den ungewöhnlichen grünen Einsprengseln fesselten den Betrachter. Ihr Haar hatte die Farbe eines Rehkitzes, ein schwer beschreibbares Hellbraun mit unzähligen Lichtnuancen.
Schöne Kinder verfügen über Macht, obwohl dies oft verborgen bleibt, wenn sie nicht gleichzeitig gescheit sind, was Sarah jedoch von jeher gewesen war; ihre Intelligenz war früh gereift. Es hatte ihre Eltern oft beunruhigt, solch wache Klugheit in einem Kindergesicht zu bemerken, das Verständnis eines Erwachsenen in jugendlichen Augen zu entdecken. Ihre Angewohnheit, anderen geradewegs in die Augen zu schauen und nach dem Menschen dahinter zu suchen, hatte sie schon als junges Mädchen entwickelt. Diese reife, fragende Intelligenz hatte sie möglicherweise ihren Altersgenossen entfremdet, doch davor bewahrte sie ihre aufrichtige Zuneigung für andere.
Kleine Fehler störten Sarah nicht. Wurden sie von ihr entdeckt, nahm sie sie hin, schätzte sie manchmal sogar wegen ihrer Einzigartigkeit. Gleichförmigkeit verabscheute sie, menschliche Schwächen nahm sie hin. Sie gehörte überdies zu den Menschen, denen es nicht nur gefällt, wenn sie ihren Willen durchgesetzt haben, sondern die auch den Weg dorthin ernstzunehmen wissen.
Von frühster Kindheit an hatte sie ihren Charme ganz selbstverständlich und wirksam als Waffe eingesetzt. Wenn sie damit keinen Erfolg hatte, was hin und wieder passierte, änderte sie einfach ihre Taktik. Sie konnte andere einschüchtern, war launenhaft und eigensinnig. Tränen gebrauchte sie nie als Mittel zum Zweck. Frauen, die Weinen als Waffe benutzten, setzten nach Sarahs Meinung ihre Gleichberechtigung für einen kurzzeitigen Sieg aufs Spiel. Tränen zur passenden Gelegenheit empfand sie als scheinheilig. Sarah hatte noch nie geheuchelt.
Zudem wußte sie, daß ihr nüchterner, durchdringender Blick
Weitere Kostenlose Bücher