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Zehnundeine Nacht

Zehnundeine Nacht

Titel: Zehnundeine Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Charles Lewinsky
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wissen, und ihr Gast antwortete, ihm sei alles recht, er wolle niemandem Umstände machen.
    Am Nachmittag spielte er zuerst mit dem Baby. Es lächelte ihn an und gurgelte glücklich, wenn er ihm sanft ins Gesicht pustete. Dann fragte er, ob er die Stereoanlage benutzen dürfe. Er hörte sich eine CD an, die einmal jemand als Gastgeschenk zu einem Abendessen mitgebracht hatte. Sie war noch nie bis zum Ende abgespielt worden. Der Hausherr fand moderne Musik zu anstrengend.»
    «Es interessiert mich nicht, was für Musik dieser Typ hört», sagte der König.
    «Entschuldige», sagte die Prinzessin. «Soll ich weitererzählen?»
    «Ich weiß schon, was kommt. Der Mann kommt nach Hause, und der Kerl hat seinen Anzug an.» Der König ließ die Fingergelenke knacken, wie er es immer tat, wenn er sich auf eine Schlägerei freute. «Da ist er natürlich stinksauer.»
    «Vielleicht war er das», sagte die Prinzessin. «Aber er sagte nichts dazu. Er hatte Sushi mitgebracht, die große Platte für drei Personen, und brauchte seine ganze Konzentration dafür, sie korrekt mit Stäbchen zu essen. Seine Frau und der Besucher unterhielten sich unterdessen über Musik.»
    «Warum wird in deiner Geschichte eigentlich dauernd gegessen?», fragte der König.
    «Weil du Hunger hast», sagte die Prinzessin. «Irgendwann kriegst du eine geballert», sagte der König. Die Prinzessin tat, als ob sie nichts gehört hätte, und erzählteweiter. «Als der Hausherr an diesem Abend zu Bett ging, fand er dort nur ein Kissen vor statt der üblichen zwei. ‹Es ist sonst für ihn zu unbequem auf dem alten Sofa›, sagte seine Frau.»
    «Das wäre mir scheißegal gewesen», sagte der König.
    «Ich weiß», sagte die Prinzessin. «Aber du kommst in der Geschichte nicht vor. Am nächsten Morgen – der Gast saß schon in der Küche und löffelte sein Viereinhalb-Minuten-Ei – rief der Ehemann nach seiner Frau, weil er seinen liebsten dunkelblauen Nadelstreifenanzug nicht finden konnte. Sie hatte ihn dem Besucher geschenkt. ‹Er steht ihm einfach besser›, sagte sie. Der Mann musste einen braunen Anzug anziehen, den er nur selten trug. Vielleicht lag es an dem ungewohnten Anblick, dass das Baby zu schreien begann, als er sich abschiednehmend über das Bettchen beugte.
    Das Wetter war mild, obwohl es schon auf den Winter zuging. Der Gast und die Frau gingen mit dem Kinderwagen spazieren, und die Leute fanden, sie seien ein schönes Paar. Im Park saßen sie dann nebeneinander auf einer Bank, und der Fremde erzählte ihr in allen Einzelheiten, wie es gewesen war, als ihr Mann ihn auf dem Bahnsteig am Selbstmord gehindert hatte.
    Im Lauf des Berichts wurde die Miene der Frau immer düsterer. Als er zu Ende war, meinte sie, so etwas hätte sie von ihrem Mann nie gedacht, da glaube man jemanden zu kennen und erlebe doch immer wieder Überraschungen. Aber wo die peinliche Geschichte nun einmal passiert sei, dürfe man jetzt auch zu Recht von ihm verlangen, dass er für sein Opfer sorge. ‹Das steht dir zu›, sagte sie.»
    Der König nickte ohne Überraschung. «Sie duzte ihn also schon.»
    «Sie waren sich nähergekommen», sagte die Prinzessin.
    «Und in der Nacht schlich sie sich wohl zu ihm ins Zimmer?»
    «Nein», sagte die Prinzessin, «so war es nicht. Sie erklärte ihrem Mann ganz vernünftig, dass sie es ihrem Gast in Anbetracht des Geschehenen nicht auf Dauer zumuten könnten, jede Nacht auf einem viel zu kleinen Sofa zu schlafen. Wenn man jemanden gegen seinen Willen ins Leben zurückhole und damit die Verantwortung für ihn übernehme, dürfe man sich hinterher nicht kleinlich zeigen, das mache einen schlechten Eindruck. Man wisse ja, wie die Leute gern redeten.
    Ihr Mann sah das ein und schlief von da an im Büro. Das sei die beste Lösung, und, nein, es mache überhaupt keine Umstände. Es war ja auch wirklich praktischer, dass sie die Plätze tauschten. Der große Kleiderschrank stand neben dem Ehebett, und warum sollte der Gast jedes Mal in ein anderes Zimmer gehen müssen, nur weil er etwas zum Anziehen brauchte? Die beiden Anzüge, die dem Hausherrn noch gehörten, hatten auch im Büro Platz.
    Die Frau fand die neue Konstellation sehr angenehm.»
    «Das kann ich mir vorstellen», sagte der König.
    «Eine Woche später sprach der kleine Junge sein erstes Wort. Zumindest konnte man sich, wenn man genau hinhörte, vorstellen, dass es ein Wort sein sollte. ‹Papa›, sagte der kleine Junge. Sein Vater war zu der Zeit im Büro, aber der

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