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Zeit der Eisblueten

Zeit der Eisblueten

Titel: Zeit der Eisblueten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kitty Sewell
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sogar weniger. Die Spuren im Schnee waren groß, und der Junge suchte ängstlich den Horizont ab. Die Fährte verschwand am Horizont, über den sich die Dämmerung herabzusenken begann.
    Ein leichter Schauer lief ihm über den Rücken. Das Volk hatte einen angeborenen Respekt vor Eisbären. Wie die alten Männer zu sagen pflegten: »Der Fuchs führt den Jäger zum Nanuk, ob die Zusammenkunft nun einen glücklichen Ausgang hat oder nicht.« Der Junge lächelte beim Gedanken an diese alberne Redensart, aber er fühlte sich verwundbar und wünschte, er hätte auf den guten Rat gehört, nicht zu Fuß aufs Meer hinauszugehen. Er schaute zum Ufer und versuchte, die Entfernung abzuschätzen. Das Dorf war gerade wieder in Sichtweite. Aus den Kaminen stieg der Rauch in scharf abgegrenzten Säulen kerzengerade in die reglose Luft hinauf. Im Trab würde er eine halbe Stunde brauchen, vielleicht mehr, er war sich nicht sicher.
    Die Hündin war aus ihrer Lethargie erwacht und lief energisch auf die Spuren zu. Dabei zog sie an dem Seil, das er an seinem Gürtel befestigt hatte. Der Junge riss scharf am Seil und schrie sie an. Aber sie reagierte kaum auf Befehle; das hatte sie noch nie getan. Verärgert trat er ihr in die Flanke, und sie verlangsamte widerwillig ihren Lauf. Ein furchterregendes Grollen entstieg ihrer Kehle, und sie hatte das Nackenhaar gesträubt. Vielleicht galt ihr Interesse ja nur dem Atemloch einer Robbe, aber das glaubte der Junge nicht. Er wusste, dass die Hündin die Witterung des Bären aufgenommen hatte und ihn getreu ihrem wölfischen Erbe nur zu gern angreifen würde.
    Obwohl es noch immer hell genug war, beschloss der Junge sofort, zum Dorf zurückzukehren, und nach einem kurzen Tauziehen mit der Hündin machten sie sich auf den Heimweg. Aber der Wind trug den Geruch des Bären in ihre Richtung, und die Hündin drehte schnüffelnd die Schnauze und wollte die Aussicht auf einen schönen Kampf nicht aufgeben. Immer wieder wandte sie sich knurrend um und blieb stehen, um den Geruch einzuatmen, während der Junge weiterhin versuchte, sie mit einiger Gewalt in Richtung Ufer voranzutreiben. Ihr Machtkampf setzte sich fort, bis sich die Hündin jäh herumwarf und in die entgegengesetzte Richtung zerrte. Dabei riss sie den Jungen fast um.
    Dort, in der Ferne, tauchte der Bär auf. Er musste ihre Anwesenheit gehört oder gespürt und seine Route verlassen haben. Jetzt folgte er ihnen. Das Dreieck aus schwarzen Punkten – die Nase und die Augen des Bären – war schon bald deutlich im Dämmerlicht zu erkennen. Die Punkte waren auf den Jungen und den Hund gerichtet, die zweifellos den willkommenen Anblick von Futter bildeten. Der Junge stand regungslos da. Schlagartig verließ ihn jegliche Stärke, und seine Knie begannen zu zittern. Er bekämpfte einen plötzlichen Drang zu urinieren.
    Der Bär wurde mit jeder Sekunde größer und deutlicher. Er näherte sich ihnen mit einem merkwürdig schleppenden Gang. Seine Bewegungen waren zielgerichtet, aber nicht eindeutig aggressiv. Auch nicht vorsichtig oder behutsam. Nur entschlossen. Der Bär war ungewöhnlich groß, aber seine winterliche Ausgezehrtheit war unter dem cremegelben Fell gut zu erkennen.
    Was den Jungen schließlich aufrüttelte und zum Handeln bewegte, war ein die Stille zwischen ihnen durchbrechender Laut: das ferne rasselnde, röchelnde Atmen des ausgehungerten Tieres. Mit seinen in dicken Handschuhen steckenden Fingern suchte der Junge in seiner Tasche nach der Signalpistole. Seine Hände zitterten, als er die Leuchtkugeln in die Pistole schob. Außer sich vor Angst schrie er die Hündin an, mit dem Zerren und Springen aufzuhören. Er konnte sie loslassen, aber er hoffte noch immer, dass ihr Knurren und Schnappen den Bären vertreiben würde.
    Mit einigem Geschick schoss der Junge eine Leuchtkugel ab. Ein Lichtbündel aussendend, flog sie zischend durch die Luft und landete vor den Füßen des Bären. Dieser hielt einen Moment lang inne, schnüffelte misstrauisch an der Leuchtkugel und hob dann seine schwarze Nase, wobei er den Kopf langsam vor und zurück schwingen ließ. Die Leuchtkugel erschreckte ihn nicht sonderlich, und nun setzte er sich erneut in Bewegung, diesmal schneller und aggressiver.
    Der Junge schoss in dichter Folge weitere sechs Leuchtkugeln ab, aber der Bär wich ihnen aus und kam unaufhörlich näher. Jetzt machte der Junge das Gewehr schussbereit. Auf das Tier zu schießen war sein letztes Mittel. Ein verwundeter Bär würde vor

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