Zeit der Geheimnisse
Wikingern sind wir durch, das nächste Thema heißt »Brücken«. Miss Shelley sagt, wir sollen nicht meckern, ihre Idee sei es nicht gewesen, und immerhin seien auf die Weise die vielen Cornflakes-Schachteln noch zu irgendetwas nutze.
Die Kälte bleibt. Aber keine spannende Kälte mit Schnee und Eisregen. Bloß diese langweilige, graue, elende Sorte.
Den Stechpalmenkönig sehe ich nicht wieder. Vielleicht zeigt er sich ja nie wieder. Jetzt, wo er gewonnen hat.
Einmal noch gehe ich zur Scheune, bevor Dad wieder abfährt. Ich schaue mich innen drin um und suche auch dahinter alles ab. Ich rufe nach ihm mit den Namen, die ich von ihm kenne. Eichenkönig! Grüner Mann! Aber ich rufe nicht lange, weil es mir blöd vorkommt, nach jemandem zu rufen, der nicht da ist.
Anschließend schaue ich noch nach seinem Baum. Er ist jetzt völlig abgestorben. Das Holz ist bleich und verwittert und voller Scharten, es glänzt nass, und an manchen Stellen, dort, wo es fault, klebt so eine Art Schleim. Der Baum sieht aus, als wäre er bestimmt fünfhundert Jahre alt.
Eigentlich glaube ich ja an eine Rückkehr von den Toten, aber wenn ich diesen Baum so ansehe, kann ich mich kaum noch daran erinnern, dass ich das mal geglaubt haben soll. Wenn ich ihn ansehe, kann ich fast nicht glauben, dass er überhaupt je gelebt hat.
In der richtigen Welt hat niemand bemerkt, dass alles anders ist. Josh und Hannah sind immer noch Josh und Hannah. Emily ist noch immer Emily und Dad ist noch immer Dad. Er kommt auch weiterhin und unternimmt irgendwas mit uns, allerdings scheint er sich jetzt etwas mehr Mühe zu geben.
»Sieh mal her«, sagt er, »ich hab dir ein Geschenk mitgebracht.« Und dann holt er eine Zeitschrift hervor oder ein Überraschungsei oder einen zweiten Adventskalender, den es im Ausverkauf billiger gab.
»Danke«, sage ich, und er legt den Kopf schief.
»Hey«, sagt er. »Moll. Das ist nicht das Ende der Welt.«
Ich antworte nicht.
Grandpa ist noch immer Grandpa. Wenn wir von der Schule nach Hause kommen, sieht er von der Kasse auf.
»Wie war’s in der Schule?«, sagt er.
»Grässlich«, schimpft Hannah und stapft in die Küche, um zu sehen, ob da vielleicht irgendein Kuchen mit abgelaufenem Haltbarkeitsdatum steht.
»So richtig grässlich?«, fragt Grandpa, und ich lege die Arme auf die Theke und lasse den Kopf darauf sinken.
»Eigentlich ganz okay«, sage ich, und er klopft mir auf die Schulter.
»Hast du Lust, die neue Ware für mich auszupacken?«, fragt er. Oder den Boden zu wischen – oder die Kartons rauszutragen – oder auf die Kasse aufzupassen, während er uns Tee macht? Und ich nicke und mache die Arbeit, die er für mich aufgespart hat, egal was, Hauptsache, ich kann in seiner Nähe bleiben.
Beim Arbeiten ertappe ich ihn manchmal dabei, dass er mich beobachtet.
»Wirklich okay?«, fragt er dann manchmal, so als würde ich ein großes, schreckliches Geheimnis vor ihm verbergen. Ich sage ihm nicht, dass ich gar kein schreckliches Geheimnis brauche. Die Dinge, von denen er weiß, sind schon schrecklich genug.
Auf den Januar folgt der Februar, und ich gehe nach Schulschluss mit vom Wind zerzausten Haaren und kalten Fingern den Hügel hinauf, und ich frage mich, ob das eigentlich immer so bleiben wird.
45 - Lichtmess
Als wir heute in unseren Klassenraum drängen, steht Miss Shelley vorn an der Tafel, und wir sehen ihr am Gesicht an, dass wir heute Morgen nicht Mathe machen.
»Heute«, sagt sie, »ist ein ganz besonderer Tag. Kann mir irgendwer verraten, wieso?«
Alle Jungen recken die Hände.
»Sie haben Geburtstag!«
»Mrs. Angus hat Geburtstag!«
»Wir machen eine Party.«
»Wir machen einen Ausflug!«
»Wir können wieder nach Hause gehen!«
Ich will keinen Ausflug machen, und bis zu meinem Zuhause ist es weit. Was ich am schönsten fände, wäre irgendein Kunstprojekt. Irgendwas Stilles, Beruhigendes mit fließenden Wasserfarben oder farbigen Perlen oder Buntstiften in sanften Pastellfarben.
»Nein«, sagt Miss Shelley. »Heute ist Lichtmess.«
»Was ist denn das – Lichtmess?«, fragt Matthew.
»Lichtmess ist ein Tag zwischen der Wintersonnenwende und der Frühlings-Tagundnachtgleiche«, erklärt Miss Shelley. Sie sieht in unsere leeren Gesichter (nicht meins! Ich wusste es noch!) und lacht. »Es ist gewissermaßen der erste Frühlingstag«, sagt sie. »In den Zeiten der Römer zogen die Menschen an diesem Tag mit Kerzen und Fackeln durch die Straßen und
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