Zeit der Geheimnisse
1 - Die Römerstraße
Es regnet, als wir nach der Schule den Hügel hinauflaufen. Ein plötzlicher Platzregen, der kommt und gleich wieder geht. Hannah legt sich die Schultasche auf den Kopf und stapft mitten durch die Pfützen.
»Zu Hause hätten sie uns nie durch den Regen laufen lassen. Zu Hause hätten sie uns abgeholt. Mit dem Auto.«
»Da wären sie auch nicht mal eben kurz die Straße runtergefahren, bloß um uns abzuholen«, sage ich. Hannah fühlt sich immer so im Recht. Wenn ich mit ihr rede, streiten wir meistens, und hinterher habe ich jedes Mal lauter halb fertige Argumente im Kopf, mit denen ich eigentlich hätte gewinnen müssen. Wenn Mum und Dad hier wären, würden sie auch nicht so einen mickrigen Hügel runterfahren, bloß damit wir nicht nass werden. Dass wir zu Hause abgeholt wurden, lag nur daran, dass wir auf so eine blöde Schule am anderen Ende der Stadt gingen. »Da mussten wir eben so lange im Hort bleiben, bis einer von ihnen Feierabend hatte. Und dann mussten wir einkaufen gehen. Und wenn wir anschließend noch Turnen oder Klavierstunde hatten, mussten wir schnell im Auto was essen. Aus einer Brotbox. Und – «
»Aber immerhin ist jemand gekommen«, sagt Hannah. »Jemand hat sich gekümmert.«
Mit jemand meint sie Mum.
»Grandpa kümmert sich«, sage ich, aber ich glaube nicht, dass sie mich hört. Hannah ist eineinhalb Jahre älter als ich und braucht ungefähr eineinhalb Millionen Mal mehr Platz.
Aus den Bäumen in den Gärten am Hang entlang fallen laut die Tropfen, es hört sich an, als redeten sie über uns. Aber Bäume reden nicht. Über die Schulter sehe ich zu ihnen hinüber, sehe, wie triefend nass und schwer sie sind, und laufe dann Hannah hinterher.
Sie drückt schon die Tür zu Grandpas Laden auf. Hinter der Tür bleibt sie stehen und schüttelt sich, sodass Wassertropfen auf Brot und Keksen landen und die Zeitungen im Ständer dunkle Flecken bekommen.
»Es ist schrecklich hier«, sagt sie. Laut.
Unauffällig drücke ich mich ebenfalls hinein. Ich finde es nicht schrecklich, hier im Geschäft von Grandpa und Grandma. Es ist winzig und dunkel, ein richtiger Kraut-und-Rüben-Laden. Hier kann man jede Menge Sachen kaufen, die ich sonst in Läden noch nie gesehen habe. Außer so stinknormalen Sachen wie Choco-Krispies und Spülmittel gibt es nämlich auch kleine gefüllte Blätterteigkuchen und Landkarten und hausgemachte Marmelade. Im Kühlschrank mit der früher mal durchsichtigen, inzwischen aber ständig angelaufenen Tür stehen Milchflaschen, auf denen mit Filzstift der Name der Kunden steht, JONES oder ENTLY, damit auch jeder genau das bekommt, was er bestellt hat. Ausgefallenere Sachen wie Mangos oder Ricotta kann man bestellen, wenn es einem nichts ausmacht zu warten, bis der Lieferwagen kommt. Die meisten wollen aber nicht warten und gehen lieber gleich zu Tesco’s, dem großen Supermarkt. In der Ecke, wo früher der Postschalter war, kann man noch ein altes Metallgitter sehen, in einer anderen stehen Körbe mit Zwiebeln und erdigen Kartoffeln. Es riecht gut hier, nach einer Mischung aus Zeitungen und Waschmitteln und Erde.
Grandma steht über den Ladentisch gebeugt und schreibt in ihr großes Rechnungsbuch. Als wir hereinkommen, blickt sie auf und guckt uns streng an.
»Hannah Brooke«, sagt sie. »Hast du völlig den Verstand verloren? Hörst du bitte auf, hier alles nass zu spritzen?« Und als Hannah sich nicht von der Stelle rührt: »Los jetzt, geht nach oben und zieht euch was Trockenes an!«
Hannah tritt gegen das Brotregal.
»Nein!«, schreit sie, und dann verzieht sich ihr Gesicht, als würde sie gleich anfangen zu weinen. »Ich will nach Hause«, sagt sie stattdessen, was ziemlich albern ist.
Grandma streitet sich nicht mit ihr, anders als Mum das gemacht hätte, aber man merkt ihr an, dass sie sich ärgert. Sie kommt hinter dem Ladentisch hervor, legt Hannah eine Hand fest auf die Schulter und schiebt sie durch die Tür in die Küche, wo Grandpa gerade pfeifend den Tee aufgießt.
Hannah verzieht das Gesicht. Es ist hellrot und weiß von der Kälte, Spuren von blauer Farbe laufen darüber, die von ihrer nassen Schultasche stammt. Man sieht, wie die Wut in ihr hochkocht.
»Krepier doch!«, schreit sie die Tür und Grandmas Rücken an, dann rennt sie hinaus und die Treppe hoch.
Grandpa und ich sind jetzt allein in der Küche. Grandpa streicht sich übers Gesicht, genauso wie Dad es oft macht. Dann atmet er tief ein – ich sehe, wie
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