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Zeit der Geheimnisse

Zeit der Geheimnisse

Titel: Zeit der Geheimnisse Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sally Nicholls
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schon.«
    Wir sind beide still und denken nach. Dann rührt sich Hannah neben mir unter der Decke.
    »Molly?«, sagt sie.
    »Mmm?«
    Ich betrachte die Schatten der Vorhänge an der Wand. Ist ein Schatten etwas, das es wirklich gibt? Ist er ein Geist?
    »Macht es dir nichts aus?«, fragt Hannah.
    Ist das wichtig?
    »Was meinst du?«, frage ich zurück.
    Was ist mit der Kälte?, überlege ich weiter. Gibt es die Kälte wirklich? Oder die Nacht? Beide kann man nicht anfassen. Aber da sind sie doch.
    »Hier zu wohnen. Bei Grandma.«
    »Doch, natürlich.«
    »Aber du sagst es nie«, sagt Hannah.
    Ich denke darüber nach.
    »Wir können nicht zu Dad zurück und bei ihm wohnen«, sage ich schließlich. »Selbst wenn er uns da haben wollte, ginge das nicht.«
    Hannah zieht sich die Bettdecke über den Kopf.
    »Andere Väter können das auch«, sagt sie. »Und Mütter. Mum hätte es gekonnt, hab ich recht? Und er hätte es auch gekonnt. Wenn er wirklich gewollt hätte. Er wollte bloß nicht.«
    Plötzlich bin ich alles so leid. Ich bin es leid, dass Mum nicht mehr da ist und Papa nicht mit uns zusammen wohnt und alles so kompliziert ist. Ich bin es leid, alles immer verstehen zu wollen. Ich lege meinen Kopf auf Hannahs Schulter.
    »Ist das wirklich wahr?«, frage ich.
    Ich warte ganz, ganz lange, aber Hannah antwortet nicht.
    »Hannah?«
    Sie dreht sich um und reibt ihren Kopf an meinem Gesicht. »Nein«, sagt sie. »Nicht wirklich.«
    Dann sind wir still.
    Es ist die längste Nacht des Jahres.
    Wir liegen zusammen im Bett und warten, dass es Tag wird.
     

42 - Dad spricht (fast) mit mir
    »Moll«, sagt mein Dad. Er kniet neben mir am Boden. »Hörst du mir zu? Moll?«
    Ich sitze unter einer Decke in Grandpas großem Sessel. Ich sehe die Muppets-Weihnachtsgeschichte im Fernsehen und esse Käsetoast und Tomatensuppe. Es ist wie Kranksein, dasselbe schwere Gefühl.
    »War – «
    Er bricht ab und fängt neu an.
    »War da wirklich jemand im Schnee?«
    Ich nicke.
    »Dieser Mann. Meiner.«
    »Moll …« Dad stockt wieder. Ich sehe ihm an, wie er mit sich kämpft, um das, was er sagen will, rauszubekommen. »Ich glaube nicht, dass dieser Mann wirklich lebendig da war«, sagt er schließlich. »Oder? Hey? Vielleicht mehr wie – « Er sieht mich an, als sollte ich es an seiner Stelle sagen, aber ich sage gar nichts. »Mehr wie der Weihnachtsmann«, sagt er dann. »Oder der Osterhase. Hey?«
    »Er war aber da«, sage ich.
    »Ja«, sagt Dad. »Ich weiß. Aber … die Polizei hat gestern Abend noch alles abgesucht, Moll. Da war niemand. Ich glaube – « Wieder stockt er. »Das ist wie … wie eine Geschichte«, sagt er. »Es fühlt sich echt an – aber es passiert nicht wirklich.«
    »Aber es ist passiert«, sage ich verzweifelt. »Wirklich.«
    Ich erwarte, dass er mir widerspricht. Mum hätte mit mir diskutiert. Grandma hätte mich weggeschickt. Grandpa hätte mir einen Kuss gegeben und gesagt, dass er mich trotzdem lieb hat. Aber Dad macht bloß den Mund auf und wieder zu, so als wüsste er nichts mehr zu sagen.
     

43 - Weihnachtsmorgen
    Es ist noch ganz, ganz früh.
    Weihnachten ist da, und der Strumpf am Fußende meines Bettes ist prall gefüllt; das sehe ich von hier aus. Ich wüsste gern, was darin ist, aber ich traue mich nicht nachzusehen. Ich habe Angst, dass Dad nicht weiß, was in Weihnachtsstrümpfe gehört. Mum wusste das. Weiß er, dass eine Apfelsine hineingehört? Und ganze Nüsse? Und Schokomünzen und eine Pralinenmischung? Weiß er, dass auf jeden Fall ein Buch drin sein muss? Und ein Kuscheltier?
    Es hat aufgehört zu schneien, aber immer noch liegt diese leichte helle Schneedecke auf den Dächern. Weiße Weihnachten. Normalerweise wäre das das Spannendste überhaupt, aber jetzt sieht alles nur nach einer einzigen großen Leere aus. So als wüsste die ganze Welt, dass mein Grüner Mann nicht mehr da ist. Ich habe Angst, dass die Leere sich auch in Weihnachten hineindrängt und alles verdirbt.
    Weihnachten darf nicht verdorben werden, dazu ist es zu wichtig.
    Ich ziehe meinen Strumpf vom Bett und gehe hinüber in Hannahs Zimmer. Sie liegt auf dem Bauch, das Gesicht im Kissen vergraben, sie schläft noch. Ich rüttle sie an der Schulter.
    »Hannah. Han-nah.«
    Sie stöhnt.
    »Es ist Weihnachten.«
    Hannah dreht sich auf den Rücken und reibt sich die Augen.
    »Gibt’s Geschenke?«
    »Jede Menge.«
    Hannah ist es egal, ob es die richtigen Geschenke sind oder nicht. Sie leert ihren Strumpf auf der

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