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Zeit der Geheimnisse

Titel: Zeit der Geheimnisse Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carl Hanser Verlag
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auf, dass keine Spuren an der Kasse bleiben.
    »Er kommt doch zu Weihnachten her, oder?«
    Grandma balanciert auf einer Trittleiter. Sie bringt Weihnachtsschmuck am obersten Regalbord an. Sie dreht sich um, die Arme voller Lametta.
    »Molly Alice!«, sagt sie. »Also wirklich! Natürlich kommt er! Wo sollte er denn sonst hingehen?«
    Aber ich mache mir trotzdem noch Sorgen.
     
    Wir haben einen echten Weihnachtbaum, vom Hof von Emilys Eltern. Schon jetzt liegen haufenweise Geschenke darunter, viel mehr als gewöhnlich.
    »Alles aus Mitleid«, sagt Hannah. »Guck noch ein bisschen trauriger, wenn das nächste Mal Besuch kommt, dann kriegen wir vielleicht noch mehr.«
    Wir selbst brauchen dieses Jahr auch für mehr Leute Geschenke. Also fahren wir noch mal mit Tante Meg nach Hexham. Ich kaufe:
     
    •   Für Grandma ein besonders schönes Glas mit Chutney und einen Kühlschrankmagneten mit der Aufschrift »Grandmas sind perfekt«. Ich hoffe, sie versteht den Wink mit dem Zaunpfahl.
    •   Für Grandpa eine Fliege mit lila Tupfen, damit er was zu lachen hat.
    •   Für Hannah einen Sandsack, damit sie nicht auf mich oder Josh einschlagen muss.
    •   Für Dad einen Bilderrahmen mit unserem Schulfoto vom letzten Jahr, damit er nicht vergisst, wer wir sind.
    •   Für Miss Shelley kaufen wir eine Hexenpuppe mit gestreiften Strümpfen und für Mrs. Angus eine Schachtel Pralinen, weil Hannah meint: »Wenn man Erwachsenen Süßigkeiten schenkt, dann müssen sie allen davon anbieten. Deshalb nehmen wir auch nicht die – Karamell mag ich nicht. Nimm die da!«
     
    Ich habe jede Menge Taschengeld gespart, weil man hier sowieso nichts kaufen kann außer Bonbons, und die bekommen wir von Grandpa umsonst. So kaufe ich noch eine Wollmütze und eine Schachtel mit Schokoladen-Weihnachtsmännern für den Grünen Mann – für alle Fälle.

 
     
    Bilder am Boden
     
     
    So langsam und leise, wie ich nur kann, öffne ich das Sicherheitsschloss an der Hintertür. Grandma ist im Laden, und sie hat scharfe Ohren. Wenn es dunkel ist, darf ich nicht mehr allein raus, das heißt, zurzeit darf ich abends überhaupt nicht mehr raus.
    Ich ziehe die Tür auf, leise, ganz leise. Gerade lacht jemand laut im Laden, und im Schutz dieses Geräuschs schleiche ich mich hinaus und ziehe die Tür hinter mir zu. Frei!
    Ich habe eine Taschenlampe dabei und den Ersatzschlüssel in der Tasche. Ich will ja auch nicht weit weg. Nur meine Weihnachtsgeschenke für den Grünen Mann abgeben, für den Fall, dass er zurück ist.
    Der Mond steht über den Hügeln, bleich und klein, mit einem großen, eisigen Ring. Der Himmel ist tiefblau. Angst habe ich keine. Erster Raureif liegt schimmernd auf dem Gras, und ich bin ganz aufgeregt, weil eine Art Märchenzauber in der Luft liegt. Das ist eine von diesen Nächten, die Mum und ich am liebsten mochten.
    Unter dem düsteren Himmel sieht sein niedriges Haus ganz mysteriös aus. So als würde es ein Geheimnis verbergen. Jetzt klopft mein Herz doch schneller. Es kann eigentlich nicht sein, dass er zurückgekommen ist. Oder? Gerade rechtzeitig zu Weihnachten?
    Nein. Unmöglich.
    Die Scheune ist leer. Die Eiche breitet ihre Äste über dem Bodenaus und reckt sich zum Loch im Scheunendach hinaus, die Zweige zieht es ins Freie. Ich gehe hin und berühre den Stamm. Er ist kalt. Das dunkle Holz fühlt sich trocken an.
    Ist es abgestorben?
    Ich weiß es nicht.
    Ich lege meine Geschenke ab und setze mich auf einen Zementsack. Ich lege den Kopf auf die Knie und schlinge die Arme um die Beine.
    »Ich wünschte, du wärst zurückgekommen«, sage ich. »Von wo auch immer.«
    Nichts passiert.
    Mit dem spitzen Ende eines Steins kratze ich Linien in die Erde. Ich versuche einen Vollmond zu zeichnen, aber es wird nur ein einfacher Kreis. Ich mache einen Kopf daraus und verpasse ihm Hörner und runde Augen.
    Das sieht auch blöd aus.
    Ich mache aus den Hörnern Blätter, die ihm aus dem Kopf wachsen, und lasse lange Zweige dort hervorsprießen, wo die Nase wäre, wenn derjenige eine hätte.
    Über meinem Kopf raschelt es in den Zweigen der Eiche.
    Ich zeichne einen Grabstein um die Person herum. Darunter zeichne ich eine Frau mit langen Haaren. Ich mache die Haare immer länger, bis die Frau darunter verborgen ist, wie Dornröschen.
    Sie sieht aus wie dahingekritzelt. Oder wie lebendig begraben.
    »Können Tote zurückkommen, zu Besuch?«, frage ich laut.
    Die Eiche erzittert. Ihre Äste bewegen sich in einer

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