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Nach Dem Sommer

Nach Dem Sommer

Titel: Nach Dem Sommer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Maggie Stiefvater
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  Kapitel 2 - Sam (-9°C)
    S ie rissen das Mädchen von seiner Reifenschaukel im Garten und schleiften es in den Wald; sein Körper hinterließ im Schnee eine zarte Spur, von seiner Welt herüber in meine. Ich sah es geschehen. Ich hielt sie nicht auf.
    Es war der längste, kälteste Winter meines ganzen Lebens gewesen. Tag um Tag verging, unter einer bleichen Sonne, die keine Wärme spendete. Und dann der Hunger, dieser nagende, brennende Hunger, der mich fast um den Verstand brachte. Nichts regte sich in diesem Monat, die Landschaft war zu einer blassen, leblosen Kulisse erstarrt. Einen von uns hatten sie erschossen, als er den Müll hinter einem Haus nach Essbarem durchwühlte. Der Rest des Rudels blieb seitdem im Wald und hungerte. Wir warteten auf die Wärme und auf unsere alte Gestalt. Bis sie das Mädchen fanden. Bis sie angriffen.
    Lauernd umringten sie sie, knurrten und schnappten, jeder wollte seine Zähne als Erster in die Beute schlagen. Ich sah zu. Ich sah, wie ihre Flanken bebten vor Ungeduld, wie sie das Mädchen hin und her zerrten, bis der kahle Boden unter dem Schnee sichtbar wurde. Ich sah rot verschmierte Lefzen. Aber ich hielt sie nicht auf.
    Ich stand in der Rangfolge des Rudels ziemlich weit oben - dafür hatten Beck und Paul gesorgt - und hätte sofort einschreiten können, aber ich blieb ein Stück abseits stehen, zitternd vor Kälte im knöcheltiefen Schnee. Das Mädchen roch warm und lebendig und vor allem menschlich. Was war denn nur los mit ihr? Warum wehrte sie sich nicht, wenn sie noch lebte?
    Ich konnte ihr Blut riechen, ein warmer, strahlender Geruch in dieser toten, kalten Welt. Ich sah, wie Salems ganzer Körper bebte, als er an ihren Kleidern zerrte. Mein Magen verkrampfte sich schmerzhaft - es war so lange her, dass ich etwas gegessen hatte. Am liebsten hätte ich mich zu Salem durchgedrängt und einfach so getan, als könnte ich ihre Menschlichkeit nicht riechen und ihr leises Wimmern nicht hören. Sie wirkte so klein inmitten unserer Wildheit, inmitten des Rudels, das ihr Leben eintauschen wollte gegen seines.
    Knurrend schob ich mich nach vorn, die Zähne gebleckt. Salem schnappte nach mir, aber ich war größer als er, wenn auch jünger und ziemlich abgemagert. Da stieß Paul ein warnendes Grollen aus, um mir den Rücken zu stärken.
    Dann war ich bei ihr. Teilnahmslos starrte sie in den Himmel. War sie doch tot? Ich schob meine Schnauze in ihre Hand, der Duft ihrer Haut - Zucker, Butter und Salz - erinnerte mich an ein anderes Leben.
    Und dann sah ich ihre Augen.
    Wach. Lebendig.
    Das Mädchen sah mich direkt an und erwiderte meinen Blick mit verstörender Offenheit.
    Ich wich zurück, und diesmal war es keine Wut, die mich zittern ließ.
    Unsere Blicke verschmolzen. In meinem Gesicht klebte ihr Blut.
    Ich fühlte, wie etwas in mir zerriss.
    Ihr Leben.
    Mein Leben.
    Widerstrebend wich das Rudel zurück - misstrauisch, als gehörte ich nun nicht mehr dazu. Sie fletschten die Zähne, bereit, ihre Beute zu verteidigen. Sie war das schönste Mädchen, das ich je gesehen hatte, ein kleiner, blutender Engel im Schnee. Und die anderen wollten sie töten.
    Ich sah sie an, und plötzlich wusste ich, was ich tun musste.
    Ich sah nicht mehr zu. Diesmal hielt ich sie auf.

  Kapitel 3 - Grace (3°C)
    I ch sah ihn wieder. Immer wenn es kalt war. Er stand am Waldrand am anderen Ende unseres Gartens. Seine gelben Augen folgten mir, wenn ich neues Futter ins Vogelhäuschen streute oder den Müll rausbrachte, doch er kam nie näher. In der Dämmerung, die in den langen Wintern Minnesotas ewig dauerte, saß ich auf der frostbedeckten Reifenschaukel, bis ich seinen Blick spürte. Später, als ich zu alt für die Schaukel war, stieg ich die Verandastufen hinunter und näherte mich ihm vorsichtig, die Hand ausgestreckt, Handfläche nach oben, den Blick gesenkt. Keine Bedrohung. Ich versuchte, seine Sprache zu sprechen. Aber wie lange ich auch wartete, wie sehr ich es auch versuchte, er verschwand jedes Mal im Unterholz, bevor ich ihn erreichen konnte.
    Angst hatte ich nie vor ihm. Er wäre groß genug gewesen, um mich von der Schaukel zu reißen, stark genug, um mich in den Wald zu zerren, doch in seinen Augen war keine Spur von der Wildheit, die sein Körper ausstrahlte. Ich erinnerte mich an seinen Blick, das Gelb in all seinen Facetten, und ich konnte mich nicht vor ihm fürchten. Ich wusste, er würde mir nichts tun.
    Und ich wollte ihm zeigen, dass ich ihm auch nichts tun würde.
    Ich

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