Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Zeit der Geheimnisse

Titel: Zeit der Geheimnisse Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carl Hanser Verlag
Vom Netzwerk:
das Haus nicht so verkommen lassen, ausgeschlossen. Er war immer viel ordentlicher als Mum. Er war derjenige, der immer mit ihr geschimpft hat, wenn sie Bücher offen herumliegen ließ, mit dem Gesicht nach unten, oder wenn sie mit schmutzigen Schuhen nach oben ging oder jede Menge Steine und Muscheln vom Strand mitbrachte und sie dann auf dem Tischchen im Flur ablegte und vergaß.
    »Brauchen wir wirklich noch mehr Krempel?«, hat er manchmal gefragt und zum Beispiel ein vergammeltes Bündel Seegras hochgehalten.
    »Die Mädchen wollten es gern malen!«, hat Mum dann gesagt. Oder: »Den Stein haben wir von dem Spaziergang in Dorset mitgebracht – weißt du noch? Den kannst du doch nicht wegwerfen!«
    Dann tat Dad so, als wäre er sauer, und sagte: »Wie soll ich mir das denn merken? Der sieht kein bisschen anders aus als andere Steine. Wenn wir so weitermachen, leben wir irgendwann noch in einer Strandhütte!«
    Darauf haben Mum und ich bloß »Au ja!« gesagt, wie aus einem Munde.
    Muscheln und Versteinerungen und vom Meer glatt geschliffene Glasscherben liegen noch immer auf der Fensterbank in der Küche, aber eine Spinne hat ihr Netz darübergesponnen. Dad macht den Kühlschrank auf und starrt hinein, als müsste sich irgendwo ganz hinten ein kompletter Sonntagsbraten verstecken. (Ist aber nicht so.) Unten im Gemüsefach fault irgendwas vor sich hin, und eine Paprika ist ringsum voller Schimmel. Es stinkt ekelhaft.
    »Wieso wirfst du das Zeug denn nicht weg?«
    »Wie bitte?«
    »So was zum Beispiel. Diese widerliche Paprika, auf der schon der Schimmel wächst. Wieso liegt die noch da?«
    »Oh …« Dad nimmt die Paprika und drückt auf den Mülleimerdeckel. Der Deckel bewegt sich nicht. Einen Moment lang sieht Dad die Paprika an, dann legt er sie in den Kühlschrank zurück.
    »Wie wär’s mit Pizza?«, fragt er.
    Ich sage nichts.
     
    Hannah ist ganz aus dem Häuschen wegen der Pizza. Sie hüpft herum, will Knoblauchbrot und Hühnchenschlegel und Cola und unbedingt selber bei der Pizzeria anrufen.
    »Und Erdbeer-Häagan-Dazs«, sagt sie zu dem Mann am anderen Ende der Leitung. Dad macht den Mund auf, um zu protestieren, lässt ihn dann aber wieder zufallen. Er scheint zu müde, um sich zu beschweren.
    »Ich hab Eis bestellt«, sagt Hannah. »Hast du’s gehört?«
    »Ich hab’s gehört«, antwortet Dad. »Haben sie gesagt, wie lange es dauert?«
    In den Katy -Büchern von Susan Coolidge hält die Hauptperson ein ganzes Haus alleine in Ordnung. Sie würde zumindest aufräumen. Ich gehe also zurück in die Küche, nehme die Pizzakrusten vom Teller und stopfe sie in die Plastiktüte, die am Schrank hängt. Die Tüte fällt runter, und Essensreste kollern über den Boden.
    Dad erscheint in der Tür.
    »Was machst du da?«
    »Nichts. Die Tüte ist runtergefallen.«
    Dad reibt sich übers Gesicht.
    »Ich dachte schon, du machst jetzt auf Hannah«, sagt er. »Komm, Schätzchen, lass es. Die Pizza müsste gleich hier sein.«
    Ich trotte hinter ihm her. Ich bin sicher, Katy hatte dieses Problem nie.
    Hannah sitzt im Wohnzimmer und sieht die Simpsons , die Füße auf dem Couchtisch. Ich setze mich auf die Kante von meinem Stuhl. Wenn Mum hier wäre, würden wir nicht auf Pizza warten und fernsehen. Dann würden wir richtige Familiensachen machen.
    »Dad«, sage ich.
    Er sieht nicht auf.
    » Dad. Können wir Monopoly spielen?«
    Hannah richtet sich auf.
    »Au ja!«, sagt sie. »Können wir? Kann ich die Bank sein? Krieg ich den Hund?«
    »Nein«, sagt Dad, ohne einen Blick vom Fernseher zu wenden. Dabei mag er die Simpsons nicht mal.
    »Oh Mann!«, stöhnt Hannah. »Wieso denn nicht?«
    »Weil die Pizza jeden Moment hier ist.«
    »Können wir Karten spielen?«, frage ich.
    »Nein.«
    »Nach dem Essen?«
    »Nein.«
    Ich bohre meine Finger in das Loch im Polster. Ich weiß, was ich jetzt sage, ist verkehrt, aber alles ist verkehrt.
    »Mum hätte mit uns gespielt.«
    Hannah schnappt nach Luft. Dad sitzt reglos da. Er starrt immer weiter auf den Fernseher, so als hätte er mich nicht gehört.
    »Mum hätte mit uns Monopoly gespielt. Und sie hätte uns richtiges Abendessen gemacht. Du hast ja nicht mal was zum Frühstück im Haus! Mum hätte nicht einfach dagesessen – «
    »Eure Mum ist tot«, sagt Dad.
    »Ich weiß, dass sie tot ist. Meinst du, ich weiß das nicht? Aber sie wäre wenigstens nett zu uns gewesen! Sie hätte uns wenigstens angeguckt! Sie hätte nicht einfach so dagesessen!« Jetzt weine ich, dicke Tränen

Weitere Kostenlose Bücher