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Zeit der Wut

Zeit der Wut

Titel: Zeit der Wut Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Giancarlo de Cataldo
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standen. Marco fühlte sich plötzlich als Fremdkörper. Die WUT hatte wieder zu pulsieren begonnen, wild und blutrünstig. Die Ordnung und die Hierarchie, an die er glaubte, wurden also mit Morden und Besuchen im Bordell hergestellt? Du hast die richtige Wahl getroffen, hatte Alissa zu ihm gesagt. Weil du bist wie wir. Marco ging weg, kehrte dem Fest den Rücken. Erst jetzt begriff er – endlich –, was zu tun war.

7.
    Didier hatte versucht, sich wenigstens den dreckigen Teil der
affaire pedé
zu ersparen, indem er seine Kontakte im Milieu der Roten alarmierte. Einer der zahlreichen Spione in der sogenannten Bewegung informierte ihn, dass es tatsächlich einen merkwürdigen Typen gab, der sich nach einem französischen Schwulen erkundigte, den er in Rom kennengelernt hatte. Nach Belleville konnte er nicht gehen, daran war gar nicht zu denken. Man hätte ihn sofort erkannt. Die Genossen rochen bereits den Braten, und ein räudiger Hund, ein alter Anarchist, Serge, der Comiczeichner, hatte zur Achtsamkeit aufgerufen. Also blieb ihm nichts anderes übrig, als sich wieder zu verkleiden und auf die Pirsch zu gehen. Er war bereits seit drei Tagen in den kleinen Lokalen um die Bastille unterwegs und er war gerade drauf und dran, einer Schwuchtel aus dem Elsass, die ihm
Tourne-toi e ta vie change
ins Ohr trällerte, ein Glas Bas Armagnac ins Gesicht zu schütten, als er plötzlich den Jungen erkannte. Sie hatten einen Blick gewechselt. Didier war sich sicher, dass der Junge ihn erkannt hatte. Aber anstatt auf ihn zuzukommen, war er merkwürdigerweise mit dem hageren Typen mit den weißen Haaren und dem entschlossenen Blick weggegangen. Das war wohl dieser Serge, der Anarchist alten Schlags. Didier ging ihnen nach. Leider folgte ihm auch die Schwuchtel aus dem Elsass. Mit zwei Faustschlägen rückte er ihr den Kopf zurecht, in einer Gasse, die nur einen Katzensprung vom Boulevard Beaumarchais entfernt war, doch in der Zwischenzeit hatten die Verfolgten sich verflüchtigt. Aber es war offensichtlich, dass sie ihm nicht trauten.
    Am Abend darauf wiederholte sich die Szene, und diesmal stellte Didier fest, dass im Lokal auch andere eigenartige Figuren saßen. Durch seinen Umgang mit Schwulen hatte er ein gewisses Talent entwickelt. Zwei Typen beobachteten alle seine Bewegungen, und die waren genauso schwul wie er. Also gar nicht. Eindeutig, man hatte ihn erkannt. Sie beobachteten ihn, sie warteten auf eine falsche Bewegung. Es war an der Zeit, sich aus dem Spiel zurückzuziehen. Noch in dieser Nacht rief er Alissa an.
    – Der Junge wird von den Anarchisten aus Belleville beschützt. Das bedeutet dicke Luft. Du musst die Sache allein erledigen. Ich erwarte dich in Paris, Mademoiselle.
    Bevor er die Angelegenheit als erledigt betrachtete, machte er sich noch einen Spaß daraus, die beiden falschen Schwulen zu massakrieren. Ein kleines Vergnügen musste man sich ja hin und wieder gönnen.

8.
    Ein Polizist, der fest an die demokratischen Grundsätze glaubt und der sich gezwungen sieht, eben diese Grundsätze im Dienst tagtäglich über Bord zu werfen, um sie zu verteidigen, müsste eigentlich den Dienst quittieren. Aber wie sagten doch die alten Römer
quid juris?
Welches Gesetz galt angesichts der Tatsache, dass die Grundsätze so sehr manipuliert und in ihr Gegenteil verkehrt wurden, dass das Überleben der Demokratie gefährdet war?
    Immer wenn Lupo versuchte die zuständigen Politiker zu zwingen, über das Paradox der Toleranz nachzudenken, versanken seine Argumente in einem Sumpf aus Gleichgültigkeit, Skepsis, Angst. Angst, zu viel aufs Spiel zu setzen. Angst, untergraben zu werden. Angst, jemand anderer könnte an ihre Stelle treten. Diese Ängste machten Lupos Netzwerk so schwach, so anfällig für die Querschläge der Feinde. Die Ängste beeinträchtigten sogar die seltenen Triumphe, die sie noch verbuchen konnten. Die aufrechten Demokraten, an deren Seite er operierte, besaßen das angeborene Talent, den Erfolg zunichtezumachen. Daria hatte nicht ganz Unrecht, wenn sie eine augenblickliche Aktion forderte. Seine Sponsoren zögerten. Die Sponsoren des Kommandanten, egal wo sie im Augenblick saßen, in der eigenen Regierung oder im Pentagon, in irgendeiner Geheimloge oder in einem Milizlager, waren da viel, viel entschlossener.
    Wie an jedem Morgen läutete der Wecker um sechs Uhr, und Lupo blieb noch einen Augenblick liegen und räkelte sich in den Laken, genoss den magischen Augenblick des Stillstands, der dem

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