Zeit der Wut
der Kommandant seine Drohung wahr machen würde. Er war ein Söldner, kein Soldat. Ein Soldat hätte verstanden. Ein Soldat hätte gehorcht.
Das Mädchen war blutüberströmt, und als der Kommandant sich über sie beugte, zuckte sie zusammen und drehte sich weg. Ihre Augen waren weit aufgerissen. An Körper und Seele verletzt, aber das junge Herz schlug noch immer. Der Kommandant flüsterte ihr tröstende Worte zu, das Mädchen schien sich langsam zu beruhigen. Sie war kaum älter als fünfzehn. Sie würde überleben. Sie würde nie vergessen. Der Kommandant wischte ihr den Dreck ab, flößte ihr ein paar Schlucke Schnaps aus seiner Feldflasche ein, hüllte sie in seine Jacke, schulterte sie und trug sie aus der Höhle.
Es war ein heißer Sommerabend, die Sonne ging gerade unter. Sie versengte die Hügel der Krajina. Der Kommandant blieb ein paar Meter vor dem Eingang der Höhle stehen, legte den Körper ins weiche Gras und warf rasch hintereinander vier Granaten ins Innere. Bei der letzten Explosion stürzte das Gewölbe ein, und ein Felssturz begrub die aufgedunsene Leiche und die fünf Söldner unter sich, die sich für Soldaten gehalten hatten. Dann legte er sich das Mädchen wieder über die Schulter und ging zum Lager. Als er in der Dämmerung dort ankam, war die Schlacht vorüber. Präsident Tudjman hatte vor laufenden Fernsehkameras der ganzen Welt erklärt: „Endlich ist der serbische Tumor aus dem kroatischen Fleisch herausgeschnitten worden.“
Pilić reichte ihm eine Flasche Sliwowitz, warf einen Blick auf das Mädchen und machte eine vage Geste.
– Kriegsbeute, sagte der Kommandant.
Pilić stellte keine weiteren Fragen. Er hätte auch keine Antwort gegeben.
Zwei Tag später brachte der Kommandant Alissa – so hieß das Mädchen – zum Flughafen von Zagreb. Beide hatten Diplomatenpässe mit falschen Namen. Pilić blieb in Kroatien. Als sie sich verabschiedeten, hatte er ihm einen heimlichen Wunsch anvertraut.
– Ich glaube, sie werden mich zum Minister oder etwas Ähnlichem machen.
– Alles Gute. Aber wenn es schiefgehen sollte, denk daran, dass du in Italien einen Freund hast, auf den du dich verlassen kannst.
– Es wird nichts schiefgehen. Nicht bei mir.
Pilić war ein Träumer. Die Zukunft hielt höchstens ein internationales Gericht oder eine Kugel in den Nacken für ihn bereit. Aber er war und blieb ein Mann mit tausend Möglichkeiten. Vielleicht konnte er ihm eines Tages nützlich sein.
In der Menschenschlange vor dem Gate warteten sie auf den Flug nach Venedig. Alissa schmiegte sich schweigend an den Kommandanten, zuckte bei jeder Bewegung zusammen, sah ihn mit ihren großen, grünen Augen an.
– Ich werde dich nie verlassen, sagte er immer wieder zu ihr, bei mir bist du in Sicherheit, immer.
Das Mädchen zeigte auf jemanden hinter ihr.
Der Kommandant drehte sich um und sah einen drahtigen Mann in den Vierzigern mit schmalem Bärtchen und schütterem Haar. Er sah ihn durch die Glaswand an, die die Ankunfts- von der Abflughalle trennte. Der Kommandant grüßte ihn mit einer ironischen Geste. Sein alter Freund Lupo wandte den Blick ab und ging zum Ausgang.
Während sie an Bord gingen, dachte der Kommandant, dass er wie immer um ein Haar der Katastrophe entgangen war. Lupo in Zagreb bedeutete, dass ein Haufen braver Jungs, die auf der richtigen Seite Blut vergossen hatten, Schwierigkeiten bekommen würden. Wenn Lupo kam, bedeutete das immer Schwierigkeiten.
Aber mittlerweile hatte er nichts mehr mit dem Ganzen zu tun.
Er beugte sich über Alissa, um sie aufzumuntern.
Sie lächelte ihn an. Zum ersten Mal. Der Kommandant verlor sich in diesem strahlenden Lächeln und empfand ein völlig neuartiges und unverständliches Gefühl, halb Sehnsucht nach einem Neuanfang, halb zartes Bedauern. Sie schloss die Augen. Das Flugzeug hob ab.
Erster Teil
Marco
1.
Es begann ganz zufällig, mit einer Bemerkung, die Monica Marino wie nebenbei fallen ließ, während sie sich, eben aus der Dusche kommend, die x-te Zigarette anzündete.
– Bald tut sich was.
Marco Ferri, der sich noch in den rosa Laken räkelte, warf ihr einen zerstreuten Blick zu und beschwerte sich über den Zigarettenrauch. Monica kuschelte sich an ihn.
– Nun komm schon, Marco. Sag mir nicht, dass du nichts davon weißt.
– Offensichtlich ist es nichts Ernstes.
– Was redest du? Morgen fassen wir Pilić.
Marco spitzte die Ohren. Seit drei Jahren liefen sie Pilić und seiner Kroatenbande hinterher. In seiner Heimat
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