Zeit der Wut
in dir. Der Krieg ist eine Lebensweise.
– Ich nenne sie WUT.
– Das ist dasselbe.
Sie hatte den Krieg in Knin kennengelernt, in der serbischen Krajina. Ihr Vater unterrichtete Atomphysik an der Universität Zagreb, ihre Mutter war Violinistin. Sie hatte auch einen Bruder, der die Geschwindigkeit zu sehr liebte. Er hatte sich mit seinem funkelnagelneuen Motorrad umgebracht. Um ihn hatte sie an diesem Abend geweint. Alissa war fünfzehn, als der Krieg in ihre Heimat gelangte. Sie hatten sich sicher gefühlt, beschützt von den internationalen Verträgen. Sie glaubten nicht, dass die Kroaten tatsächlich angreifen würden. Sie konnten sich nicht vorstellen, dass Nachbarn oder Schulfreunde ihre Mörder werden würden. Am Tag des Massakers, als die Kroaten die
Operation Sturm
begonnen hatten, war ihre Mutter deportiert worden. Der Vater hatte versucht, sie zu retten. Wenigstens sie.
– Er fand ein Versteck, eine Höhle, in der Tiere gehalten wurden. Aber er war verwundet, in seiner Hüfte steckte eine Kugel, wenn man ihn ins Krankenhaus gebracht hätte, hätte er überlebt. Aber wir waren in einer Höhle, ich war ein kleines Mädchen und hatte furchtbare Angst. Er muss gelitten haben wie ein Hund, er wurde immer kälter, er verblutete, aber es dauerte schrecklich lang. Er brauchte absurd lang, um zu sterben, aber er klagte nicht, er wollte mich nicht noch mehr erschrecken. Ich habe mir immer gewünscht, dass er schon tot war, als sie kamen. Dass er nicht gehört und gesehen hat … sie waren zu fünft, der Rest einer versprengten Truppe … besoffen, blutbespritzt. Sie haben mir die Kleider vom Leib gerissen und mich vergewaltigt. Ich erinnere mich an alles, an jedes Detail, an den Geruch, an die Hände auf meinem Körper, an den Speichel und das Sperma. Es ist nicht wahr, dass man ohnmächtig wird oder nicht mehr begreift, was los ist. Ich nicht. Und es stimmt auch nicht, dass man alles verdrängt, alles auslöscht. Ich nicht. Es hat nicht lange gedauert, nicht länger als eine Viertelstunde. Eine Ewigkeit.
Dann war der Kommandant gekommen.
– Er hörte meine Schreie. Er kam in die Höhle gelaufen, sagte etwas zu den Schweinen, aber die gaben keine Antwort. Da begann er zu schießen. Der Letzte ist auf mir liegend gestorben, Blut lief aus seinem Mund. Ich habe noch immer den Geruch des Blutes in der Nase, ich werde ihn nie vergessen. Der Kommandant wickelte mich in seine Jacke und nahm mich auf den Arm …
Alissa lächelte. Ein zärtliches, entschiedenes Lächeln. Das Lächeln des Todes.
– Danach hat er mir erklärt, dass das seine Männer waren. Er hat seine Männer umgebracht, um mich zu retten. Verstehst du? Seit diesem Tag gehöre ich ihm. Ich bin ein Teil von ihm, eine seiner Gliedmaßen. Wie ein Bein oder ein Arm. Er setzt mich ein, wie es ihm beliebt. Er befiehlt, ich gehorche. Für ihn habe ich gelernt zu kämpfen, zu lügen, meinen Körper als Waffe zu benutzen.
– Auch bei mir?
– Nein, antwortete sie und streichelte sein Gesicht, bei dir gab es keinen Grund, du bist einer der unseren. Ich habe dir nur einen kleinen Schubs gegeben, am Anfang, damit du den Sprung gewagt hast.
– Taxi.
– Sie oder ich … aber im Grunde war es nicht einmal notwendig … du hast den Neger umgebracht, wie mir scheint. Du hast alles allein gemacht. Mit deinen Händen … es war vorherbestimmt, Marco. Du bist wie ich, wie wir … ein Soldat … und wirst es immer bleiben …
– Ein Soldat, wiederholte Alissa, kein Söldner. Der Kommandant ist kein Söldner. Und auch ich bin keine Söldnerin. Auch wenn man bei der Arbeit in einem Bordell Informationen sammeln kann.
– Jeder spielt eine Rolle in diesem Krieg, Marco. Du, ich, Evelina, Taxi … Typen wie Lupo wollen die Welt dem Chaos und der Anarchie überlassen. Wir wollen eine geordnete Welt, wo alles an seinem Platz ist. Wir wollen Hierarchie, Marco, Ordnung, die das Chaos besiegt.
Später stieß Marco zu den anderen im Blu Notte. Mastino nahm ihn zur Seite und steckte ihm zwei Kokstütchen zu.
– Das ist für morgen. Das ist mein persönliches Geschenk. Ich möchte, dass du dich vergnügst, dass du vögelst wie ein Stier, dass du an nichts denkst, nur an dein Vergnügen … morgen setzen wir unser Leben aufs Spiel, mein Junge, das könnte unsere letzte schöne Nacht sein!
Alle waren da, vom Kommandanten bis zum letzten Rekruten. Ihre aufgetakelten und willigen Frauen, die Mächtigen, die um sie herumscharwenzelten, die Handlanger, die wie unter Strom
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