Zeit für Eisblumen
Sam nahm mein Gesicht in seine Hände und sah mich fest an. „Oder glaubst du, dass ich mir von irgendeinem dahergelaufenen Iren einfach so die Freundin ausspannen lasse?“
In zwei Tagen fliegen wir nach Hause, Sam, Paul und ich. Meine Mutter wird erst einen Tag vor Weihnachten nachkommen. Sie möchte unbedingt das Cottage von Heinrich Böll finden, in Dingle den Delfin sehen und, ich bin mir sicher, auch mit Ian ins Bett gehen. Aber es macht mir kaum noch etwas aus. Eltern müssen lernen, ihre Kinder loszulassen, und umgekehrt gilt es wahrscheinlich genauso.
Mein Vater hat diese Nachricht recht gefasst aufgenommen. Und anstatt sich in den Flieger zu setzen und sie zurückzuholen, so wie Sam es bei mir getan hat, ist er lieber eine Runde Golf spielen gegangen, hat Helga erzählt.
Ihr Baby hat sich gedreht, befindet sich in Startposition, und in wenigen Wochen werde ich es auf meinem Arm halten. Mittlerweile bin ich nicht mehr neidisch auf sie, dass sie die Chance bekommt, es besser zu machen als ich. Ich denke, den Umständen entsprechend habe ich mich wahrscheinlich gar nicht so schlecht geschlagen.
Morgen früh bekommt David das Ergebnis des Vaterschaftstests. Doch ich habe keine Angst mehr davor. Keine große jedenfalls. Und wenn das Ergebnis so ausfällt, wie ich es vermute, werde ich Sam meinen Seitensprung nicht gestehen. Nina hatte recht, als sie mir damals im Weltwald sagte, dass niemand damit gedient wäre. Außerdem brauche ich Sams Absolution nicht mehr. Ich habe mir selbst verziehen.
Tja, und ich? In vier Wochen muss ich wieder arbeiten. Bis dahin überlege ich mir, was ich beruflich mit meinem Leben sonst noch anfangen könnte. Vielleicht probiere ich es mit Meditation und habe eine Erleuchtung. Wenn nicht, versuche ich, alles ein wenig gelassener anzugehen.
Aber bis der Alltag mich einholt, habe ich zum Glück noch Zeit. Mit Sam und Paul stehe ich auf der Aussichtsplattform der Cliffs of Moher und schaue über das wütende Meer hinweg. Ich habe Sam nicht gesagt, warum, aber ich wollte, unbedingt noch einmal zu dem Ort fahren, an dem ich erkannt habe, dass man um die wirklich guten Dinge im Leben kämpfen muss. Dieses Mal scheint sogar die Sonne.
Im Nachhinein frage ich mich, warum ich nach der Depression genauso weitergemacht habe wie zuvor. Warum ich nichts daraus gelernt habe. Mir wäre einiges erspart geblieben. Aber wahrscheinlich war es gut so, wie alles gekommen ist.
Denn ansonsten hätte ich nie bemerkt, dass Pauls kleiner Zeh haargenau so aussieht wie der von Sam. Ich hätte mich niemals rückwärts in den Wind fallen lassen. Ich hätte nicht auf einer Steinbank in den Burrens gesessen. Ich hätte Harry nicht kennen gelernt und auch nicht beide Enden des Regenbogens gesehen. Ich hätte mir niemals Zeit für Eisblumen genommen.
Nicht alles im Leben hat einen Sinn. Ich denke an Tofuwürstchen, Karottenjeans und Mineralwasser extrastill. Und erst recht nicht Kriege und Eltern, die ihre Kinder verlieren. Aber ich glaube, das meiste schon.
Doch ich werde schon wieder sentimental. Das irische Klima scheint mir einfach nicht zu bekommen.
Die Gischt schäumt bis zu uns herauf und Paul kreischt jedes Mal entzückt, wenn ihm ein Tropfen ins Gesicht spritzt. Sam lacht und zieht mir die Kapuze vom Kopf, weil er findet, dass ich durch den Wind wie Cousin Itt von der Adams Family aussehe. Mir ist wie immer eisig kalt, ich habe den Mund voller Haare und ich bin mir nicht sicher, ob ich Sams Ausrutscher mit genauso viel Toleranz begegnen werde wie jetzt, wenn ich auf Monika treffe und sie mir deutlich zu verstehen gibt, dass sie meinen Freund vernascht hat. Aber trotzdem möchte ich in diesem Moment mit niemandem tauschen. Ich bin froh, dass ich nach Irland gefahren bin. Auch wenn ich mir ein paar blaue Flecken zugezogen habe und auf einige recht unangenehme Wahrheiten gestoßen bin, war es richtig, hierher zu kommen.
Denn letztendlich ist es mir genauso ergangen wie dem kleinen Bären und dem kleinen Tiger auf ihrer Suche nach Panama: Ich musste ganz schön weit reisen, um zu erkennen, dass ich mein Glück zu Hause längst gefunden hatte.
Jetzt ist es so weit! Auch ich bin am Ende meiner Reise angelangt. Und obwohl sie für mich nicht immer einfach gewesen ist, fällt es mir schwer, Abschied zu nehmen.
Mit Fee habe ich geliebt, gelitten, gehofft – und ich muss es gestehen – auch manches Mal geweint. Ihre Geschichte liegt mir besonders am Herzen, aber gar nicht so selten hatte ich Zweifel,
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