Der Huf des Teufels (German Edition)
Eins
Der Flügel schnitt durch die graue, scheinbar schwerelose Masse vor dem Fenster. Als das Flugzeug aus der Wolke heraustrat, tauchte es in einen mit weißen Schneeflocken gefüllten Luftraum.
Shelly sah aus ihrem kleinen, an den Rändern beschlagenen Fenster. Durch das dichte Treiben des Schnees hindurch erkannte sie unter sich ein paar vereinzelte Lichter. Sie hörte das Sirren des Fahrwerks, das wie der Bohrer eines Zahnarztes klang, und dann ein abschließendes Rumpeln. Das Flugzeug schwankte etwas, und sie legte beide Hände an ihren Gurt. Nur noch wenige Minuten, und es war geschafft. Der Vogel, der sie in das neue Land gebracht hatte, wäre gelandet.
Sie nahm ihre Sonnenbrille vom Kopf, schob sie wie ein Visier vor ihre Augen und spürte dabei den Blick ihres Nachbarn, ignorierte ihn jedoch. Sie hatten nicht ein Wort miteinander gewechselt auf dem neunstündigen Flug. Shelly hatte einige unmissverständliche Signale ausgesandt, die deutlich machten, dass sie einer Unterhaltung – welcher Art auch immer – abgeneigt war. Der Mann schob die FAZ , die er während der letzten zwei Stunden gelesen hatte, zurück in das kleine Netz im Sitz vor ihm und richtete seine Krawatte, die er irgendwo über dem Atlantik geöffnet hatte, neu. Er war Vielflieger und ohne großes Gepäck, nur mit einem kleinen schwarzen Rollkoffer und einem Kaschmirmantel unterwegs. Auf seinem iPad hatte er während des Fluges irgendwelche Statistiken durchgearbeitet, aber das hatte Shelly nicht wirklich interessiert. Sie war auf sich selbst konzentriert gewesen, hatte ihre Entscheidung im Kopf immer wieder hin- und hergedreht und -gewendet. Sie dachte an jede mögliche Konsequenz, die daraus folgen könnte. Ihr Handy hatte sie aus Vorsicht erst gar nicht angeguckt.
Die dicken Schneeflocken hatten sich inzwischen in grieselige kleine Partikel verwandelt, die kreuz und quer durch die Luft stoben. Jetzt konnte man auch die Landebahn erkennen, und kurze Zeit später setzten sie mit einem zweifachen Quietschen auf. Der Pilot lenkte die Boing in einer Linkskurve in Richtung Terminal. Sie hielten an, der Schlauch der Gangway saugte sich wie ein riesiger Wurm an den Rumpf des Flugzeugs, und dann ging die Hektik los. Alle sprangen auf, nachdem man das hundertfache Klicken der Gurte vernehmen konnte, machten sich über die Gepäckablagen her und verpackten sich umständlich in der Enge in ihre Jacken und Mäntel. Shelly hatte nur eine warm gefütterte Steppjacke dabei, die sie bis unters Kinn zuzog. Dann setzte sie eine abgewetzte Baseballkappe auf, die sie schon seit über zwanzig Jahren besaß. Auf ihrer Stirn prangte nun der Stern von Texas.
Bis Shelly an der freundlich grüßenden Stewardess vorbei nach draußen trat, hatte es aufgehört zu schneien. Durch die kleinen Fenster des schwarzen Schlauchs, in dem sie nun stand, sah Shelly, dass der Himmel teilweise aufriss und ungleichmäßige türkisblaue Felder zwischen den grauen Wolken freilegte. Die feine Schneedecke auf dem Boden hielt sich noch, wurde von einem böigen Wind aber ständig verweht. Den Frühlingsanfang in Deutschland hatte Shelly sich etwas anders vorgestellt.
Sie ging die Gangway hinunter und wurde dabei von den meisten Passagieren überholt. In der Gepäckhalle wollte sie die Frachtpapiere aus ihrer hellen Rindsledertasche, die sie über der Schulter trug, herauskramen, doch sie konnte die verdammten Unterlagen einfach nicht finden. Das Gepäckband war von den Reisenden umringt, die aufgeregt ihre Koffer, Taschen und Beutel suchten, nur Shelly stand etwas abseits und wühlte in ihren wenigen Habseligkeiten herum. Genervt steckte sie ihre Sonnenbrille auf den Mützenschirm und suchte weiter. Kaugummi, Lippenstift, Konzertkarten, Taschentücher, eine Rohrschelle, ein Stimmgerät, zwei gerissene Gitarrensaiten, eine kaputte Armbanduhr, eine Zahnpastatube, ein USB -Stick, zwei Ringe und am Boden etwas texanischer Sand. Mehr nicht. Ihr Koffer war inzwischen auf dem Gepäckband gelandet und zog immer einsamer seine Kreise. Shellys Sitznachbar verließ die Halle in Richtung Ausgang und warf ihr einen letzten prüfenden Blick zu. Verzweifelt ließ sie ihre Tasche sinken, atmete frustriert aus und ging zur Gepäckausgabe. Als ihr Koffer sich an ihr vorbeischob, griff sie zu, verlor dabei allerdings ihre Sonnenbrille, die auf das Band fiel und langsam davonglitt. Shelly fluchte, stellte ihren Koffer auf und zog den Teleskopgriff heraus. Da tippte ihr jemand auf die
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