Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Zementfasern - Roman

Zementfasern - Roman

Titel: Zementfasern - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Verlag Klaus Wagenbach <Berlin>
Vom Netzwerk:
sich um eine Holzplatte herum mehrere Dutzend Stühle und auf diesen Stühlen ein Trupp Kalabresen versammelt. Unter ihnen war einer von denen, die aus der Glashütte gejagt worden waren: ein finsterer Typ mit rotem Gesicht und eingeschlagener Nase. Er warf drohende Blicke in Richtung Ippazio. Die Jukebox stand in ihrer Nähe, sie sandte Töne und blaue Funken aus, ein paar Leute tanzten mitten auf dem Platz. Ein junges Pärchen küsste sich, ein Italiener und eine Ausländerin, es war ein inniger, endloser Kuss, ein erschreckender Kuss, der die Aufmerksamkeit der Leute weckte. Als der Refrain einsetzte, stimmten die Kalabresen einen misstönenden Chor an. Ippazio hätte sich gerne zu ihnen gesellt, doch der drohende Blick hielt ihn auf Distanz, und als die Musik zu Ende war, sah er den Finsterling aufstehen. Ein Männchen, der Schädel rund, von nahem konnte man einen schütteren Schnurrbart erkennen. Er ging direkt auf Ippazio zu, setzte gravitätisch die Fersen auf, wie bei einem Marsch.
    »Spendierst du mir eine Runde?«
    »Ich kenne dich nicht.«
    »Ich heiße Giacomo, und du spendierst mir eine Runde.«
    »Ich habe kein Geld, tut mir leid.«
    »Frag deine Freunde«, sagte der finstere Typ.
    »Freunde hast du doch dabei. Ich bin ganz allein hier.«
    »Hast du gesehen, dass heute mehr Kalabresen als Italiener hier sind?«
    »Das wusste ich nicht.«
    »Du weißt es genau, darum glotzt du uns an.«
    »Ich habe euch nicht angeglotzt.«
    »Was hast du zu glotzen?«
    »Willst du mir Ärger machen?«
    »Ich will wissen, warum ein Italiener einen Kalabresen anglotzt.«
    »Ich habe euch überhaupt nicht beachtet.«
    »Jaja, lüg mich nicht an, ich weiß, warum du uns angestarrt hast, Arschloch. Man hat uns aus eurem beschissenen Haus geschmissen, aber es geht uns jetzt besser als vorher.«
    »Dann spendier du mir doch eine Runde«, sagte Ippazio, aber sein Tonfall war sanft, nicht bissig, wie er gewollt hatte.
    »Du bist ein Hosenscheißer.«
    »Was hast du gesagt?«
    »Du hast Angst vor mir.«
    »Ich habe Angst, dir eine reinzuhauen.«
    »Warum probierst du es nicht?« Der Finsterling kam näher. Der Vope hatte die Szene verfolgt und näherte sich, auch Governo und andere Leute kamen dazu.
    Ippazio stand auf.
    »Du hast zu viel Wein getrunken, Giacomo.«
    »Und du riskierst zu viel, mich glotzt keiner so an.«
    Ippazio begriff, dass es besser war, dem Mann keine weiteren Vorwände zum Angreifen zu geben, und wandte ihm den Rücken zu.
    Giacomo zog ihn am Arm und brüllte: »Feigling!« Plötzlich drehte Ippazio sich um, und als hätte sein Körper sich vom Willen abgetrennt, schlossen die Finger sich zu einer Faust, eine uralte, grundlose Kraft wuchs in den Muskeln, und die Fingerknöchel trafen Giacomo mit einer vollendeten Gegenbewegung zum Haken von oben nach unten.
    Der Streithammel fiel zu Boden, er war wie tot. Die Kalabresen näherten sich mit drohenden Zornesfalten im Gesicht. Governo ging dazwischen: »Das ist eine Sache zwischen den beiden. Wer sich einmischt, wird morgen in den Zug nach Hause gesetzt.«
    Giacomo machte einen Satz wie eine Eidechse ohne Schwanz und warf Ippazio Schottersteinchen in die Augen, aber der wich ihnen aus und gab dem Mann zwei Tritte in die Kniebeugen, damit er sich wieder hinsetzte. Ippazio erkannte, wie betrunken Giacomo war, und wie leicht es gewesen war, ihn zu Boden zu werfen. Er spürte, wie aus unbekannten Räumen in seinem Inneren panisches Erschrecken über das aufstieg, was er getan hatte.

Der Schlafsaal hatte sich geleert, manche waren nach Italien zurückgekehrt, und neue Familien würden erst nach dem Sommer kommen, andere hatten eine Wohnung gefunden. Die Orlando blieben bei der kleinen Gruppe derjenigen, die noch in der Glasfabrik hausten.
    »Bist du nicht zu groß geworden, um mit mir in einem Bett zu schlafen?«, hatte Mama Rosanna eines Tages gesagt.
    Mimi versank in dem Feldbett wie in einer Wiege aus Watte, manchmal spielte sie, dass sie schwamm, andere Male legte sie sich auf den Rücken und betrachtete das von den schüchternen Lichtern des Züricher Abends erhellte Dach. Ferne Schimmer aus den Wohnvierteln um die Glasfabrik legten sich auf das Dach wie eine bläuliche Wolke, in der man seine Umrisse erkennen konnte, und es erschien ihr unermesslich weit entfernt. Schwindel erfasste sie, und wegen des Schwindels blieb der Schlaf aus, ein qualvoller Zustand, der erst endete, wenn das Silber des Morgengrauens hereinfiel.
    Eines Tages kam Onkel Peppe mit einem

Weitere Kostenlose Bücher