Zerbrechlich - Zerbrechlich - Handle with Care
neue, aber sie atmet normal. Ich lag im Krankenhausbett und lächelte wie blöde. Ich war sicher die einzige Wöchnerin auf der Geburtsstation, die sich über solch eine Neuigkeit freute.
Seit zwei Monaten wussten wir schon, dass du mit OI – Osteogenesis imperfecta, der so genannten Glasknochenkrankheit – geboren werden würdest, zwei Buchstaben, die unser ganzes Leben bestimmen sollten. Es handelt sich um eine Kollagenfehlbildung, die Knochen so brüchig macht, dass sie beim Stolpern, beim Umdrehen, ja sogar beim Niesen brechen können. Es gibt mehrere Typen davon, doch nur bei zweien kommt es zu Knochenbrüchen im Mutterleib, wie wir sie auf den Ultraschallbildern gesehen hatten. Trotzdem konnte uns der Radiologe seinerzeit nicht sagen, ob du nun Typ II hattest, was bei der Geburt tödlich gewesen wäre, oder Typ III , was ernst ist und zu immer weiteren Deformierungen führt. Nun wusste ich, dass du im Laufe der Jahre Hunderte Knochenbrüche haben würdest, doch wichtig war nur noch eins: dass du überhaupt am Leben warst.
Als der Sturm nachließ, fuhr Sean nach Hause, um deine Schwester zu holen, damit sie dich kennenlernen konnte. Ich schaute mir die Radarbilder im Fernsehen an, die zeigten, wie der Blizzard nach Süden zog und sich in einen alles lahmlegenden Eisregen verwandelte, der über Washington, D.C. , niederging. Ich versuchte, mich ein wenig aufzusetzen, obwohl die frisch genähte OP -Wunde wie Feuer brannte. »Hey«, sagte Piper, kam herein und setzte sich auf die Bettkante. »Ich habe es schon gehört.«
»Ja«, sagte ich. »Wir sind ja so glücklich.«
Piper zögerte nur einen winzigen Augenblick, bevor sie lächelte und nickte. »Sie ist jetzt auf dem Weg nach unten«, erzählte sie, und im selben Moment schob eine Krankenschwester ein Kinderkörbchen in den Raum.
»Sooo. Hier ist deine Mami«, trällerte sie.
Du lagst auf dem Rücken auf einem Kissen aus speziellem Schaumstoff, das sich dem Körper anpasst, und hast tief und fest geschlafen. Deine winzigen Ärmchen und Beinchen und dein linker Knöchel waren mit Bandagen umwickelt.
Sobald du älter wärst, so hieß es, würde man dir ansehen können, dass du unter OI leidest – zumindest wer sich auskennt. Die Beugung deiner Arme und Beine und die dreieckige Gesichtsform würden auffallen, und du würdest nie größer werden als einen Meter. Doch jetzt, in diesem Augenblick, sahst du trotz deiner Verbände makellos aus: eine pfirsichfarbene Haut, ein winziger himbeerroter Mund, die Haare widerspenstig und goldblond, die Wimpern so lang wie mein kleiner Fingernagel. Ich streckte die Hand aus, um dich zu streicheln – und zog sie wieder zurück, weil ich mich erinnerte.
Ich hatte mir so sehr gewünscht, du mögest die Geburt überleben, dass ich über die Herausforderungen, die das für uns bedeutete, gar nicht nachgedacht hatte. Ich hatte ein wunderschönes kleines Mädchen, das so zerbrechlich war wie eine Seifenblase. Als deine Mutter sollte ich dich vor Schaden bewahren. Doch was würde werden, wenn ich dich immer wieder verletzte?
Piper und die Krankenschwester schauten einander an. »Du willst sie in den Arm nehmen, nicht wahr?«, fragte Piper. Sie schob die Hand als Stütze unter das Schaumstoffkissen, während die Krankenschwester die Seiten anhob, um deine Ärmchen zu stützen. Langsam legten sie mir das Kissen in die Armbeuge.
Hey , flüsterte ich und nahm dich ein wenig enger. Den rauen Schaumstoff in den Händen, fragte ich mich, wie lange es wohl dauern würde, bis ich dich richtig spüren, deine Haut an meiner fühlen durfte. Ich dachte an Amelias Säuglingszeit: wie ich sie im Bett in den Arm nahm, wenn sie weinte, und mit ihr einschlief. Da habe ich zwar stets Angst gehabt, ich könnte mich versehentlich auf sie legen und sie ersticken. Aber bei dir stellte es schon eine Gefahr dar, dich aus der Wiege zu heben. Oder dir den Rücken zu reiben.
Ich schaute zu Piper auf. »Vielleicht solltest du sie besser nehmen …«
Piper ließ sich neben mir nieder und strich mit einem Finger über deinen Kopf. »Charlotte«, sagte Piper, »sie wird schon nicht zerbrechen.«
Wir wussten beide, dass das gelogen war, aber bevor ich dahingehend etwas sagen konnte, stapfte Amelia herein, mit Schnee an Handschuhen und Pudelmütze. »Sie ist da! Sie ist da!«, sang deine große Schwester. An dem Tag, als ich ihr gesagt habe, dass du kommst, hat sie gefragt, ob du rechtzeitig zum Mittagessen da sein würdest. Als ich daraufhin
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