Zigeuner
Winter fehlte das Geld, um Feuerholz zu kaufen, weil der Chef nicht aufgetaucht war. Die Frauen tranken, um zu ertragen, dass ihre trinkenden Männer sie verprügelten. Die Männer schlugen ihre Frauen mit der Begründung, sie würden zu viel trinken. Die Frau, die am häufigsten Schläge erhielt, hieß Suzanna. Sie war neunundfünfzig, zählte sechsunddreißig Enkelkinder und hatte fünfzehn Kinder geboren, von denen sechs noch lebten. Die Rumäninnen behaupteten, Suzanna habe ihre Kinder verhungern lassen. Suzanna behauptete, ihre Brust habe keine Milch mehr gegeben. Ihre Schwiegertochter Clara sagte über ihr verstorbenes Kind Luise, das Mädchen sei so rosig und schön gewesen, dass Gott es zu sich holte. Die Nachbarn sagten, Luise sei an einer Lungenentzündung gestorben, weil die Dreijährige im Winter nackt herumlief und von ihren Geschwistern mit kaltem Wasser abgespritzt wurde. Die Roma-Mütter beklagten, sie besäßen keine warmen Kleider für ihre Kinder. Die Sachsen meinten, die Caritas habe tonnenweise gut erhaltene Altkleider ins Dorf gebracht, die Zigeuner hätten die Sachen eben nicht auf dem Schäßburger Markt für Schnaps verkaufen dürfen. Schwerwiegender war der Vorwurf, die Sippe habe die kleine Luise nicht einmal aus dem Hospital in Schäßburg zur Beerdigung abgeholt, woraufhin die Zigeunerinnen konterten, ohne eine ordentliche Geburtsurkunde hätten die Ärzte das tote Kind sowieso nicht herausgegeben.
Wolkendorf alias Vulcan war ein typischer Karpatenweiler. Man erreichte ihn, wenn man die Landstraße von Schäßburg nach Agneteln fuhr, in Apold links abbog und eine Weile einer Schotterpiste folgte. Seine Existenz verdankte der Ort dem Revolutionsgericht der Weihnacht 1989 und damit dem Umstand, dass der Schreckensutopist Ceauşescu seine apokalyptischen Visionen nicht mehr vollends in die Tat umsetzen konnte. Denn für Wolkendorf waren die Bulldozer vorgesehen. Auf den Reißbrettern der Planungsstrategen war Vulcan bereits ausradiert. Dorfsystematisierung nannte sich der Alptraum, gewachsene architektonische und soziale Strukturen auf dem Land zu zerstören und die Menschen in die Plattenbauten agroindustrieller Komplexe umzusiedeln, wo sie von den Schergen der Securitate besser zu kontrollieren waren. Da dieses Schicksal auch den gut einhundert Bewohnern von Vulcan zugedacht war, zu gleichen Teilen Rumänen und Zigeuner sowie ein Dutzend Ungarn und ein paar verbliebene Sachsen, wurde in dem Ort kein Handschlag mehr getan. Zu Beginn der neunziger Jahre bot sich ein Bild des Ruins und der Verwüstung. Verödete Felder, zwei, drei Dutzend marode Bauernhöfe, leere, verfallende Stallungen. Die Volksschule war bis auf die Grundmauern demoliert, die mittelalterliche Wehrkirche hatten Räuber leergeplündert, der Gemeindesaal stank nach Urin und war mit Fäkalien verdreckt. Irgendwo lag ein zertrümmertes Klavier. Als mich der schöne Klang des Ortsnamens erstmals an einem regnerischen Tag nach Wolkendorf lockte, schlichen erbärmliche Gestalten durch den Morast, verwahrlost, ausgemergelt und grau. Frauen, gebückt und buckelnd, selbst in jungen Jahren gekleidet wie Matronen. Männer, vom Fusel torkelnd. Dazwischen die Roma-Kinder, barfuß, in zerfledderte Kleider gehüllt, verstört und verhuscht.
Trotzdem. Ich habe Wolkendorf immer gern besucht. In den milden Frühlingstagen und den warmen Herbstmonaten war das abgeschiedene Nest für mich eine zweite Heimat. Das Erste, was in dieser Insel des Stillstands auffiel, waren die saubere Luft, der betörende Duft von frischem Gras, von Blumen und Heu, das kristallklare, kühlende Wasser und die unglaubliche Ruhe, die mir das Gefühl gab, alle Hast und Hektik der Welt verflüchtige sich zur bedeutungslosen Chimäre. Den ersten Eindruck indes, für die Bewohner sei die Zeit stehengeblieben, musste ich korrigieren. In Wolkendorf standen die Zeiger nicht still, und die Menschen hatten die Zeit auch nicht in einem willentlichen Akt aktiven Tuns angehalten. Sie waren schlichtweg aus der Zeit herausgefallen. Es gab nur ein diffuses Hier und Jetzt, während der Blick zurück nichts Erinnerungswürdiges gewahrte und der Blick nach vorn sich im trüben Dunst der Zukunftslosigkeit verlor. Das aufregendste Ereignis dereinst trug sich am orthodoxen Ostern 1991 zu, als man klagte, wilde Wölfe hätten in den Bergen dreiundzwanzig Schafe gerissen, was für viele Kleinbauern im Dorf ein schmerzlicher Verlust war.
Die Wolkendorfer waren, wenn sie nicht allzu viel
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