Zons 03 - Kalter Zwilling
aufschrecken ließ. Ohne weiter auf die Beeren zu achten, rannte sie davon. Eine Horde Bauerntrampel stapfte polternd den Pfad entlang. Die Halbwüchsigen waren so in ihr eigenes Gealbere vertieft, dass auch sie den Blaubeeren keinerlei Beachtung schenkten. Enttäuscht ließ er sich hinter die Weide zurückfallen. Er würde wohl noch Geduld aufbringen müssen.
IV.
Gegenwart
»Wieso hat er ihre Finger wie Perlen auf eine Kette aufgereiht?« Der Leiter des Kriminalkommissariats, Hans Steuermark, starrte Oliver mit stechendem Blick an. Oliver zuckte mit den Schultern. Er wusste es nicht. Seine Augen waren auf die Großaufnahme der Leiche gerichtet.
»Ich habe noch keine Erklärung dafür. Ich weiß nur, dass der Täter sich sehr sicher gefühlt haben muss, denn die ganze Prozedur hat sich über Stunden hingezogen. Frau Scholten geht davon aus, dass ihr die Finger bei lebendigem Leib abgetrennt wurden. Wahrscheinlich hat das Opfer sogar dabei zugesehen, wie er die Finger aufgefädelt und vor ihren Augen aufgehängt hat. Ich denke, dass er das Morden genießt. Er will, dass seine Opfer wissen, dass sie sterben werden – zu einem Zeitpunkt, den er bestimmt.«
»Haben Sie die Datenbank einmal nach vergleichbaren Fällen durchforstet? Ich denke, dass dies hier nicht sein erster Mord ist.«
»Ja, aber auf deutschem Boden gibt es keine ähnlichen Morde. In Amerika laufen etliche von diesen Spinnern rum. Hier hat die Datenbank gleich drei Übereinstimmungen gefunden. Zuerst dachte ich, es liegt an meiner ungenauen Beschreibung. Aber tatsächlich hat im letzten Jahr in St. Paul, im US-Bundesstaat Minnesota, ein vergleichbarer Mord an einer Prostituierten stattgefunden. Er hat ihre Finger zwar nicht auf einen Nylonfaden gefädelt, aber er hat sie wie ein Kunstwerk zusammengenäht und auf einer silbernen Platte drapiert.«
Mit diesen Worten drückte Oliver seinem Chef den Ausdruck der Datenbankanalyse in die Hand.
»Gut«, antwortete Hans Steuermark nachdenklich, während er in dem Bericht blätterte.
»Ich kann mir nicht vorstellen, dass wir eine Verbindung zwischen unserem und deren Fall herstellen können.«
Oliver lehnte sich auf seinem Stuhl vor: »Immerhin sind Neuss und St. Paul seit einigen Jahren Partnerstädte. Über dreißig amerikanische Firmen sind hier in Neuss angesiedelt, darunter auch große Namen wie UPS oder 3M. Ganz von der Hand zu weisen ist eine Verbindung nicht.«
Steuermark horchte auf und blickte Oliver anerkennend an. »Nicht übel, Herr Bergmann. Es könnte durchaus sein, dass einer der Angestellten oder jemand aus seinem Umfeld hier sein Unwesen treibt. Schließlich hat man in den USA den Täter nicht gefunden und ein weiterer Mord ist nicht registriert.«
»Das ist richtig. Ich werde mir eine Liste aller in Neuss und Umgebung lebenden Amerikaner geben lassen.«
Steuermark klopfte Oliver auf die Schulter. »Und vergessen Sie nicht, auch die deutschen Angestellten, die einen längeren Aufenthalt in Minnesota hatten, zu überprüfen. Wenn ich mich recht erinnere, haben Sie im Kalender der Toten keine ausländischen Namen gefunden. Da spricht doch vieles dafür, das unser Täter aus Deutschland stammt.«
Mit diesen Worten ließ Steuermark Oliver stehen und marschierte in seiner üblichen, stürmischen Gangart aus dem Büro. Mit einem lauten Knall flog die Tür zu und Oliver saß wieder alleine an seinem Schreibtisch. Angestrengt rieb er sich die Schläfen. In letzter Zeit litt er häufiger unter Kopfschmerzen. Er war ständig verspannt. Genauer gesagt ließ ihm die Sache mit der Visitenkarte seines Partners keine Ruhe. Ein kurzer Blick auf den Kalender sagte ihm, dass er noch zwei Tage warten musste, bevor Klaus aus dem Urlaub zurückkam.
Abermals nahm er den Telefonhörer in die Hand und überlegte, ihn einfach anzurufen. Nach ein paar Sekunden legte er den Hörer zurück auf die Gabel. Nein, dachte Oliver, das musste er persönlich mit Klaus klären. Sicher gab es eine harmlose Erklärung dafür, dass diese verdammte Visitenkarte im Kalender der ermordeten Sophia Koslow steckte.
Langsam zog er die oberste Schublade seines Schreibtisches auf. Da lag sie, direkt oben auf. Sie sah so harmlos aus, wie ein Stückchen Papier nur aussehen konnte. Und doch barg sie eine große Gefahr in sich. Nicht nur, dass Klaus in Verbindung mit einem Mordopfer stand. Das Schlimmste war, dass Oliver seine eigenen Regeln verletzt hatte. Sein schlechtes Gewissen pochte hinter seinen Schläfen.
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