Zu Grabe
flüsterte Lorentz verzweifelt. »Bitte, Nina, kannst du das für mich in die Hand nehmen?«
»Natürlich, du kannst dich auf mich verlassen.«
Nachdem Capelli aufgelegt hatte, rückte sie ihre Brille zurecht und starrte das Handy an. Ihr Freund wurde verdächtigt, einen Kollegen ermordet zu haben – das durfte ja wohl nicht wahr sein! Er brauchte jetzt dringend ihre Hilfe. Einen guten Anwalt in Wien würde sie schon auftreiben, da würde sie ihre Beziehungen spielen lassen. Aber reichte das aus? Was konnte sie noch tun? Gedanken explodierten in ihrem Kopf, sausten ungebremst hin und her und verursachten ein riesiges Durcheinander.
Minutenlang saß sie nur da und grübelte. Dann kam ihr eine Idee. Sie fuhr sich mit beiden Händen durch die Haare und griff erneut nach dem Handy.
»… und nachdem wir der Seele Ruh im Grabe geschafft,
wird laut noch gerufen der Abschied.«
Vergil, Äneis
Chefinspektor Otto Morell saß in der Polizeiinspektion von Landau, einem kleinen Kaff in den Tiroler Bergen, und starrte Löcher in die Wand. Seine Freundin Valerie hatte vor knapp zwei Wochen aus heiterem Himmel beschlossen, dass sie eine Beziehungspause brauchte, und seitdem war der sonst so fröhliche und ausgeglichene Polizist ein echter Trauerkloß. Missmutig schob er sich ein Stück selbstgebackenen Marmorkuchen in den Mund und kaute geistesabwesend darauf herum. Eigentlich sollte er ja keine Süßigkeiten mehr essen, da sein Bauch die Uniformhose bereits bis zum Anschlag dehnte, doch er brauchte den kulinarischen Trost aus Zucker, Fett und Kohlehydraten – ans Abnehmen konnte er ein anderes Mal denken. Morell lockerte seinen Gürtel, um seinem Bauch ein wenig Freiraum zu geben, und griff nach dem nächsten Stück.
Von wegen Beziehungspause – er wusste genau, was das zu bedeuten hatte. Warum konnten Frauen nicht einfach sagen, was sie dachten? Warum mussten sie immer um den heißen Brei herumreden? Damit machten sie doch alles nur noch schlimmer. Der Chefinspektor wusste genau, was als Nächstes kam: In ein paar Tagen würde sie ihn anrufen und vorschlagen, doch gute Freunde zu bleiben – aber darauf konnte er verzichten. Er nahm sich ein drittes Stück Kuchen und verpasste ihm eine fluffige, weiße Haube aus Sprühsahne.
Morell und Valerie waren zusammengekommen, nachdem er eine schreckliche Serie von Morden aufgeklärt hatte und als Retter von Landau gefeiert worden war. Mittlerweile war jedoch wieder der Alltag eingekehrt, was dem Chefinspektor mehr als nur recht war – er liebte sein entspanntes Leben und war froh, wenn er sich in Ruhe um seine drei Hobbys kümmern konnte: Kochen, Essen und Blumenzüchten. Seine Noch-Freundin sah die Situation anscheinend anders: Sie hatte sich in einen strahlenden Helden verliebt und einen übergewichtigen und ruhebedürftigen Dorfpolizisten bekommen. Und er konnte ihr ihr Verhalten nicht einmal verübeln.
Als wäre das nicht alles schon schlimm genug, lag auch noch der Lieblingsficus des Chefinspektors im Sterben. Morell hatte die Topfpflanze extra von zu Hause mitgebracht, damit er sie den ganzen Tag über pflegen konnte, aber so wie es aussah, kam jede Hilfe zu spät. »Nicht sterben, mein Kleiner«, flüsterte er und schob das Bäumchen dichter ans Fenster, damit es alle Strahlen der Morgensonne abbekam. Dann kontrollierte er die Feuchtigkeit der Blumenerde und stellte noch einmal sicher, dass sein grüner Freund keine Zugluft abbekam. »Was fehlt dir denn nur?« Er blätterte in einem Pflanzenratgeber, als die Tür aufging und Robert Bender mit einer Tasse Tee in der Hand den Raum betrat.
Der 27-jährige Inspektor hatte vor drei Jahren seine Ausbildung zum Polizeibeamten beendet und war seitdem Morells Assistent und Stellvertreter. Bender, der regelmäßig im Fitnesscenter trainierte, war alles andere als ein dünner Zwerg, doch neben seinem Vorgesetzten fühlte er sich klein und schmächtig. Normalerweise blickte der junge Polizist also stets ein wenig eifersüchtig auf die imposanten 1,95 m Körpergröße und die üppige Statur seines Vorgesetzten, doch heute boten der vom Liebeskummer gezeichnete Morell und sein sterbenskranker Ficus ein solches Bild des Elends, dass bei Bender keine Spur von Neid mehr aufkam. Im Gegenteil – die nun schon seit fast zwei Wochen andauernde Schwermut des Chefinspektors bereitete ihm allmählich Sorgen.
»Hier, Chef, ich habe Ihnen einen Tee gemacht.« Bender konnte nicht mehr länger mit ansehen, wie Morell vor sich hin litt
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