Zu Grabe
näher heran. Das konnte ja wohl nur ein Scherz sein! Ein schlechter Scherz! O Gott …! Das war kein Spaß! Das war echt! Und das Rot, das war gar keine Farbe …
Mirko Berger fiel kreidebleich auf die Knie, und sämtliche Würdenträger der Universität Wien schauten ihm mit starren Blicken und ungerührten Mienen dabei zu. Alle, bis auf Otto Benndorf – dessen Büste war nämlich verschwunden und durch das Haupt von Professor Vitus Novak ersetzt worden. Leider war Novaks Kopf aber nicht aus Marmor oder Gusseisen, sondern aus Fleisch und Blut.
Es dauerte einige Zeit, bis Mirko es schaffte, mit zitternden Händen sein Telefon aus dem Rucksack zu zerren und die Polizei zu alarmieren.
Der diensthabende Beamte hielt den Anruf für einen schlechten Scherz. »Verdammtes Pack«, murmelte er. »Dieses arbeitsscheue Gesindel sollte lieber weniger saufen und sich stattdessen nützlich machen.« Studenten hatten in seinen Augen einfach nicht genügend zu tun. Wenn sie mehr arbeiten oder lernen würden, dann hätten sie nicht so viel Zeit, irgendwelchen Unfug auszuhecken. Ständig machten diese neunmalklugen Typen Ärger: demonstrierten gegen dieses, boykottierten jenes oder waren auf irgendeine andere Art und Weise eine Plage. Und jetzt dachten diese Klugscheißer auch noch, sie könnten ihn verarschen! Von wegen menschliche Köpfe im Arkadenhof!
Der Inspektor nahm einen Schluck Kaffee, gähnte ausgiebig und griff dann erst nach dem Funkgerät. »Ist irgendwer von euch in der Nähe vom Dr.-Karl-Lueger-Ring?«, fragte er. »Die G’fraster von der Uni haben wieder irgendwas angestellt.«
Die Polizisten ließen sich Zeit, und so dauerte es geschlagene zwanzig Minuten, bis sie im Arkadenhof eintrafen. Der Schock über die Erkenntnis, dass es sich diesmal um keinen Scherz oder einen simplen Fall von Sachbeschädigung handelte, war daher umso größer. Die Beamten versuchten ihren Schnitzer wiedergutzumachen, indem sie sich mit Feuereifer in die Arbeit stürzten, und deshalb vergingen nur wenige Stunden, bis der erste Verdächtige gefunden war.
»Wenn die Hoffnung uns verlässt,
geht sie, unser Grab zu graben.«
Carmen Sylva
»Grüß Gott, Frau Horsky.« Leander Lorentz, ein drahtiger Archäologe, der noch immer braungebrannt von seiner letzten Ausgrabung war, musterte seine Nachbarin. Sie war eine reiche, aufgetakelte Witwe und so alt, dass sie Kaiserin Maria-Theresia wahrscheinlich noch persönlich gekannt hatte.
»Gestern war es sehr laut bei Ihnen«, sagte sie und kniff ihre runzligen Lippen zusammen. »Ich bin eine alte Frau und brauche dringend meine Ruhe. Seit Sie diese Wohnung gemietet haben, Herr Dr. Lorentz, sind Sie mir schon einige Male negativ aufgefallen. Dies ist ein seriöses Haus. Haben Sie das verstanden? Hier herrschen Ruhe und Ordnung!«
Lorentz war erst vor kurzem in die Wohnung neben Frau Horsky gezogen. Davor hatte er in einer kleinen, billigen Studentenbude gehaust, und das, obwohl er mit seinen 34 Jahren schon lange nicht mehr studierte, sondern als Dozent an der Universität arbeitete. Vor ein paar Wochen hatte er beschlossen, dass es an der Zeit sei, das Lotterleben hinter sich zu lassen, und seine Freundin, die in Innsbruck lebte, gebeten zu ihm nach Wien zu ziehen. Sie waren nach relativ kurzer Suche auf eine Altbauwohnung im 19. Bezirk gestoßen und sofort davon begeistert gewesen. Die hellen Räume, der stilvolle alte Fischgrätparkett und die großen Doppelflügeltüren waren einfach wunderschön. Auch die Umgebung, die Anbindung an die öffentlichen Verkehrsmittel und die Höhe der Miete waren perfekt. Sie hätten sich eigentlich denken können, dass dieses tolle Schnäppchen einen Haken hatte.
Der Haken hatte sich direkt am ersten Tag vorgestellt: Frau Agathe Horsky. Die alte Hexe war alles andere als erfreut darüber, dass nebenan jetzt ein junges Paar lebte – noch dazu ein unverheiratetes –, und ließ keine Gelegenheit verstreichen, den beiden das Leben schwerzumachen. Sie schien gegen jegliche vernünftige Argumentation gefeit zu sein, und sogar der so oft erprobte Charme des attraktiven Lorentz versagte bei ihr vollends.
»Ich war gestern nicht laut. Vielleicht haben Sie ja jemand anderen gehört.« Lorentz gähnte und schob eine Strähne seines dunkelbraunen Haars aus der Stirn. Er musste dringend wieder einmal zum Friseur.
»Sie hatten doch Besuch«, entgegnete Frau Horsky und zeigte mit einem faltigen Finger auf ihren Nachbarn. »So wie Sie aussehen, haben
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