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Zuckerpüppchen - Was danach geschah

Zuckerpüppchen - Was danach geschah

Titel: Zuckerpüppchen - Was danach geschah Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heidi Hassenmüller
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er für sie gepflückt. “Mach den Mund auf’, hatte er scherzend kommandiert. “Mund auf und Augen zu.” Sie hatte ihm gehorcht, ihm vertraut.
    Ich habe ihm immer und immer wieder vertraut, dachte sie gepeinigt und fühlte wieder Tränen unter ihren geschlossenen Augenlidern hervorquellen. Warum nur hat er mein Vertrauen so mißbraucht? Lag denn alles nur an ihrer Jugend, lag es nicht auch daran, daß sie in den letzten fünfzehn Jahren hin und her gerissen worden war zwischen Liebe und Vertrauen, Angst und Verzweiflung? Wie lange hält man das aus? Wie lange hält man es aus, wenn man eine andere Jugend gehabt hätte? Die Angst, die ständige Angst hatte sie verrückt gemacht, hatte sie in eine zitternde, gejagte Kreatur verwandelt. Aber Angst brauchte sie doch nicht mehr zu haben. Da war nichts mehr, wovor sie noch Angst haben mußte. Alles, was sie gefürchtet hatte, war eingetreten. Er hatte sie belogen und betrogen. Er würde sie verlassen. Das Wasser kühlte etwas ab, sie schauderte, öffnete den Kran, um heißes Wasser nachlaufen zu lassen. Sie würde allein sein. Allein mit den Kindern. Die Kinder liebten sie. Und sie liebte ihre Kinder. War das nicht genug, um zu versuchen weiterzuleben? Wenn ich doch nur die Kraft hätte, um weiterzuleben. Sie war so unendlich müde. Sie wollte nichts anderes mehr als schlafen.
    Sonnenstrahlen weckten sie. Sie hatte vergessen, die Gardinen vor dem Fenster zuzuziehen. Wie eine Tote war sie irgendwann aus der Wanne in ihr Bett getaumelt. Morgen, hatte sie gedacht, morgen. Heute nicht mehr, sie hatte nicht einmal mehr die Kraft, die kleinen gelben Pillen zu schlucken. Sie war auch ohne sie todmüde. Jeder Schlaf war ein kleiner Tod. Wenn man einfach so einschlafen könnte, wie oft hatte sie sich das schon gewünscht. Aber war das wirklich der ernsthafte Wunsch, nicht mehr leben zu wollen? Ihre Kinder nie mehr zu sehen, sie nicht mehr anfassen zu können, ihr Lachen nicht mehr zu hören, ihre Wärme nicht mehr zu spüren? Ich muß sie anrufen, dachte sie, noch einmal ihre Stimmen hören, sie beruhigen, falls sie sich Sorgen machen. Ihre Kleider, suchend sah sie sich um. Ein ordentlicher Stapel auf dem Tisch. Jemand mußte sie dahin gelegt haben. Die junge Frau, die ihr ein warmes Bad angeraten hatte? Sie hatte sich Gedanken um sie gemacht. Um eine Fremde. Langsam richtete Gaby sich auf, stützte sich ab, setzte die Füße nebeneinander auf den Fußboden. Sie fühlte sich benommen, wie nach einem dunklen, schweren Traum. Ich muß die Kinder anrufen. Sie zog sich an, kramte in ihrer Handtasche nach Kleingeld. Die Röhrchen mit den Tabletten glitten durch ihre Finger, sie hielt sie eine Sekunde fest, ließ sie wieder los. Nein, sie wollte ihre Kinder hören. Unten im Treppenhaus war ein Münzfernsprecher. Ihr Mund war trocken, als sie die vertraute Nummer drehte. Beinahe unmittelbar nach der letzten Nummer wurde der Hörer aufgenommen. “Ja, hallo?” Daniel war am Telefon. Gott sei Dank, Daniel, nicht er. “Hallo???” Seine Stimme wurde ganz hell. “Mammi, bist du es?” — “Ja”, sagte sie und atmete tief durch. “Ja, mein Schatz, ich bin es.” — “Mammi, wo bist du?” Mein Gott, er hatte Angst, Angst um seine Mutter, ihr lieber, kleiner Daniel, der immer nur gelacht hatte, ihr immer vertrauensvoll die Arme entgegengestreckt hatte. Sie hörte im Hintergrund Gepolter, Huberts Stimme. “Gaby, um Himmels willen, wo bist du?” — “Ich weiß nicht”, sagte sie und sah sich suchend um. “In einem Hotel. Ich weiß nicht genau, wo.” Auf dem Münzfernsprecher stand ein Ortsname. “Assen”, murmelte sie. Sie hatte keine Ahnung, wo Assen lag. “Soll ich dich abholen?” Huberts Stimme klang drängend. “Wir haben uns Sorgen gemacht.” Er stockte einen Moment. “Die Kinder brauchen dich, Gaby.” Sie schluckte wieder. Die Kinder brauchen dich. Er sagte nicht: Wir brauchen dich. Sie schwieg, hatte auf einmal panische Angst, die Verbindung zu unterbrechen, ihn nicht mehr zu hören. “Gaby, hörst du mich. Komm nach Hause. Das ist keine Lösung, wegzulaufen.” Er schwieg, und dann sagte er es doch: “Ich brauche dich, Gaby.”
    Aufschub einer Hinrichtung? Es soll in Amerika Todeskandidaten gegeben haben, die Minuten vor ihrer Hinrichtung zu hören bekamen: “Heute nicht. Aufgeschoben!” Ob diese armen Menschen in diesem Moment erleichtert waren? Noch einmal eine Hoffnung, eine Chance weiterzuleben? Solange man lebt, ist Hoffnung. Verdammt lang ist die

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