0736 - Mosaik des Todes
Seanzaara wusste später nicht zu sagen, wie lange sie bewusstlos auf dem Rücken liegend verbracht hatte - mit dem ›Stein‹ auf der Brust. Das war ihr egal. Es zählte nur, dass der Zauberspruch gelungen war.
Und wieder hatte sie ein weiteres Stück zum-Mosaik des Todes erhalten…
***
Das Erwachen ging schubweise vor sich. Seanzaara fand in Wellen wieder in die Wirklichkeit zurück. Eine kleine Welle bedeutete ein bisschen Erinnerung, wie einzelne Kieselsteine, die aus einer hohlen Hand auf den Boden rieseln. Eine große Welle war gleichbedeutend mit dem Überschwemmtwerden und gleichzeitigem Verstehen. Mit jedem neuen Schub wurden die Gedanken der Frau klarer.
Ihr anfangs wie unter Krämpfen verzerrt auf dem Steinboden liegender Körper entspannte sich unendlich langsam.
Zuerst wusste sie nicht, wer sie war und wo sie sich befand.
Ich… bin… Seanzaara…
Die Gedanken schienen zäher zu fließen als eingetrockneter Honig, der nur unter Mithilfe eines Löffels aus dem Gefäß zu entnehmen war.
Die Frau wunderte sich. Vorhin -wie lange war das schon her? - hatte sie mit überkreuzten Beinen dagesessen, und nun lag sie auf dem harten Steinboden!
Ihre leeren Blicke irrten von dem schimmernden Objekt, das sie in den Armen hielt, und dem Boden hin und her.
Das ist doch…
Sie hielt eine Seelen-Träne in den Armen. Ein weiteres Teilstück zum Mosaik des Todes. Diese magischen Überreste waren unerlässlich, wenn sie ihre Welt retten wollte. Retten vor der Auflösung. Vor dem totalen Verschwinden.
Aber warum? In diesem Fall ließ ihre Erinnerung sie im Stich. Wie jedes Mal, wenn sie ein weiteres Stück zum Mosaik des Todes hinzufügte.
Unendlich langsam rann die Erinnerung in ihr Gedächtnis zurück. Sie hasste sich selbst für diese Schwäche.
Aber jetzt konnte sie den Gedankenfetzen festhalten, ein übersichtliches Bild des Ganzen breitete sich in ihrem Gehirn aus.
D'Halas Seelen-Tränen zählten zu den größten Heiligtümern ihres Volkes. Sie waren die manifestierte Energie gestorbener Zauberer des Planeten K'oandar. Sie konnten dabei helfen, diese Welt zu erhalten. Aber nur dann, wenn sie bald in das Mosaik eingebaut wurden. Im Tränen-Zustand fraßen sie ihre Welt regelrecht auf.
Und sie, Seanzaara, war eine der bekanntesten und gefürchtetsten Hexen aus dem Volk der Caltaren. Zu ihr kamen Leute aus allen Gegenden von K'oandar. Ihr Rat wurde gesucht, ihr Urteil war gefürchtet.
Sie war eine hoch geachtete Persönlichkeit. Ohne sie lief in diesem Teil von K'oandar nichts. Dafür hatte sie schon vor langer Zeit gesorgt. Dass sie ihren eigenen Vorteil nicht aus den Augen ließ, verstand sich dabei von selbst.
Mit anderen Worten - sie war ziemlich gerissen!
Wer nicht aufpasste, wurde von ihr hemmungslos übers Ohr gehauen. Sie war im Notfall im Stande, später zu behaupten, die Betrogenen hätten noch darum gebettelt, dass ihnen die Taschen erleichtert wurden. Das Schlimme dabei war, dass viele ihr diese Lüge glaubten.
Caltaren, die um die Wahrheit wussten, gaben aus gutem Grund keine Widerworte. Sie fürchteten den Zorn von Seanzaara. Als letzten Ausweg aus einer Notlage sorgte sie dafür, dass ihre Kontrahenten vor Gericht gestellt wurden - natürlich unter ihrem Vorsitz. Die Verurteilten wurden magisch verseucht, und danach verloren sie das Gesicht. Dies war die grausamste Strafe, die das Volk der Caltaren kannte. Nur zwei Personen überhaupt hatten diese unmenschliche Tortur überlebt.
Das sagte genug über Seanzaaras Verhältnis zur Macht aus.
Trotzdem liebte sie ihr Volk und, mehr noch, ihre Welt. Sie hätte alles dafür gegeben, wenn die Bedrohung, die K'oandar den Untergang bringen sollte, abgewendet werden könnte.
Ein eisiger Wind wehte mit einem Mal über die felsige Hochebene, auf der Seanzaara saß. Sie blickte auf und verzog unwillig ihr Gesicht. Dann verschränkte sie die Arme vor dem Oberkörper, um sich gegen die Kälte zu schützen.
Die Erschaffung des neuen Mosaiksteins hatte sie, wie immer, viel Kraft gekostet. Es steckte viel Arbeit und Erfahrung dahinter, die Seelen »zeitlich einzuweben«, und nur zwei Caltaren außer Seanzaara beherrschten diese Vollendung der Magie. Ihr Körper war immer noch schweißbedeckt - jetzt mit kaltem Schweiß. Durch den Wind, der wie unzählige kleine Dolche stach, fror sie noch mehr. Sie zitterte wie Laub im Wind.
Seanzaara stand unter großer Anstrengung auf. Mit kurzen, kraftlosen Schritten taumelte sie ihrer Hütte entgegen. Sie
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