Zuckerpüppchen - Was danach geschah
das hatte Mutti früher auch immer gesagt.
Hysterisch war schlecht für heranwachsende Kinder. Labil auch. Sie brauchten eine starke Mutter. Hubert würde dafür sorgen, daß sie alles bekamen. Das hatte er heute nacht auch gesagt. “Du glaubst doch nicht, daß du unentbehrlich bist? Du mit deinen Szenen, du bist Gift für die Kinder. Du vergiftest hier die Stimmung.” Er hatte recht. Jetzt wollte sie nicht mehr. Jetzt war der Punkt gekommen, an dem sie aufgab. Sie konnte nicht mehr kämpfen. Nicht mehr für ihre Kinder, nicht mehr um Hubert und nicht mehr für sich selbst. “Ich liebe euch”, schrieb sie den Kindern auf einen Zettel neben dem fertigen Essen. Keinen Abschiedsbrief, der erschreckte nur. Sie fuhr mit dem Auto zur Kantine, in der Hubert neuerdings mittags sein Essen einnahm. Vollkommen überraschend stand er plötzlich genau vor ihrem Auto. Sie sahen sich an. Er hatte vergessen, sein Lächeln anzuknipsen. Ich kapituliere, sagte sie ohne Worte, und er verstand sie. Sie setzte den Wagen zurück und drückte den Fuß aufs Gaspedal. Der Motor heulte auf. Bewegungslos sah er ihr hinterher.
Gaby fuhr und fuhr. Sie sah keine Richtungsschilder, keine Ortsangaben, sie fuhr automatisch, die Hände fest am Steuer, den Blick geradeaus. Sie wußte nicht wohin, nur weg von ihm, von diesem Todeslächeln, dieser Grabeskälte. Und die Kinder? Sie waren besser ohne sie dran. Das hatte sie in den letzten Monaten begriffen. “Du machst die Kinder kaputt”, hörte sie Hubert wieder sagen. “Du mit deinen Szenen, deinen Vorwürfen, deinen ewigen Tränen.” Er hatte recht. Seit Monaten konnte sie beinahe nichts anderes mehr als weinen. Es war, als sei ein Damm gebrochen, und sie war nicht mehr in der Lage, den Tränenstrom zurückzuhalten. Als sie Hubert den klugen, verständigen Brief geschrieben hatte, war sie fest davon überzeugt gewesen, die Sache in den Griff zu bekommen. Sie hatte ihm auch keine Vorwürfe mehr gemacht. Nur die Tränen, die konnte sie nicht mehr zurückhalten. Und gestern, als er strahlend von dem Urlaub mit seiner Mutter zurückgekommen war und gesagt hatte: “Und hier ist dein großer Schatz”, da hatte sie wieder eine Szene gemacht. “Widerlich”, hatte er verächtlich geschnaubt, als er die Hackklößchen von seiner Hose klaubte. Dabei hatte sie ihr bestes versucht. Sie hatte nicht mehr über die Vergangenheit gesprochen. Nur bei Dr. Rolveld war das gestattet. Aber was gab ihr dieser Therapeut? “Sie wollen verheiratet bleiben, also müssen Sie auch Zugeständnisse machen”, hatte er ihr unverblümt gesagt. “Nur, wieweit sind Sie bereit zu gehen?” Weit, ganz weit, hätte sie am liebsten versprochen, wenn er nur bei mir bleibt. Aber sie wußte, sie könnte so nicht leben. Nicht mit dem Wissen, daß er jederzeit aus den Armen einer anderen zu ihr ins Bett kriechen könnte. Und jetzt wollte sie über all das Schmutzige und Widerliche nicht mehr nachdenken. Sie wollte nicht mehr denken und nichts mehr fühlen. Schlafen und nie wieder aufwachen. Als Kind hatte sie sich auf eine Wiese gelegt. Weiße Margeriten und roter Mohn hatten sie zugedeckt. Wie gern wäre sie damals so leicht und schlafend in das große Nichts hinübergegangen. Aber man hatte sie gefunden, sie erst in einen Zuber mit heißem Wasser gesteckt und anschließend, bis zur Nasenspitze zugedeckt, in das weiche Bett bei den Ehrenreichs. Man durfte sie nicht vorzeitig finden. Und ihre Kinder durften nichts davon mitbekommen. Nicht so wie sie und Achim. Damals, als Mutti sich die Pulsadern aufgeschnitten hatte. Die Feuerwehr war gekommen und hatte die Tür aufgebrochen. Und überall war Blut gewesen. Blut, Angst und Tod. Nie werde ich das meinen Kindern antun, hatte Gaby sich geschworen. Wie kann man so verantwortungslos sein und die eigenen Kinder mit “so etwas” konfrontieren. Mit dem eigenen Tod, herbeigeführt von eigener Hand.
Gaby weinte laut auf. “Ich kann nicht mehr, ich habe keine Kraft mehr! Ich kann nicht mehr kämpfen!” Sie fühlte heiße Tränen über ihr Gesicht laufen, und es war ein tröstliches, lebendiges Gefühl, wie warmes Blut, das aus ihr strömte. Irgendwann einmal würde sie leer sein, ausgeweint, leergeblutet, und dann blieb nichts mehr von ihr übrig. Sie würde ihre Kinder nicht mehr vergiften können, sie würden frei und unbeschwert mit ihm und einer anderen aufwachsen können. “Eure Mutter war krank”, würde er ihnen erklären. “Ihr dürft es ihr nicht übelnehmen. Sie hatte
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