Zwienacht (German Edition)
rechten Handrücken. Es schmerzte nie, ganz im Gegensatz zu seinem Schädel.
Darin war irgendetwas kaputt gegangen.
An dem Abend, bevor er sich auf dem Schulhof wiederfand, war er auf der alljährlichen Sommerparty seines Verlegers Klaus Sänger gewesen. Sänger feierte grundsätzlich am letzten Tag der großen Ferien.
Normalerweise mied Richard solche Veranstaltungen, aber dieses Mal hatte sein Verleger darauf bestanden und Richard wollte ihn nicht vor den Kopf stoßen.
Auf der Party war es hoch hergegangen. Gut hundert Gäste wippten zur Live-Musik einer Jazzband und schütteten Longdrinks vom eigens engagierten Barmixer in sich hinein.
Richard vertrug nur wenig Alkohol und so war er sich ziemlich sicher, dass er es bei ein paar Gläsern Bier belassen hatte.
Natürlich waren auch Kollegen von Richard unter den Gästen gewesen. Vielleicht hatte sich einer von ihnen einen Scherz mit ihm machen wollen. Einen überaus drastischen Scherz mit K.-o.-Tropfen und SM-Montur.
Aber niemand wollte etwas bemerkt haben. Sein Verleger hatte vermutet, dass sich Richard einfach irgendwann klammheimlich davongeschlichen hatte.
Richard Gerling setzte sich wieder an den Schreibtisch. Er hatte ihn direkt unter das Fenster im Schlafzimmer gestellt, in der Hoffnung, inspiriert vom neuen Ausblick und in der Gewissheit in Sicherheit zu sein, wieder zu seinem alten Arbeitspensum zurückzufinden. Er hatte es immer geliebt, den Computer in der Nähe des Bettes aufzustellen. Früher war er immer wieder in der Nacht aufgewacht, den Kopf voller Ideen, die sofort in die Tastatur gehämmert werden mussten, ehe sie sich wieder verflüchtigten.
Heute war alles anders.
Richard starrte mit glasigem Blick auf den Computermonitor. Die Buchstaben verschwammen vor seinen Augen zu einem undeutlichen Strichcode. Er würde wohl auch heute nicht einen einzigen Satz zustande bringen können.
Seit einem Monat lebte er in Döbeln, seinem Exil. Mit viel Akribie hatte er die Wohnung in der ersten Etage des Altbaus eingerichtet und war zurückgekehrt zu seiner ganz speziellen vorehelichen Form von Gemütlichkeit, die aus übervollen Bücherregalen, gestapelten Zeitschriften und bunten Tüchern an Wänden und Lampen bestand. Das heißt, eigentlich benötigte er nur einen Teil der Wohnung. Das Schlafzimmer mit Schreibtisch, Nachschlagewerken und Bett war sein Lieblingsort.
Die Wohnung wurde durch einen Flur in zwei Hälften getrennt. Schlafzimmer und das kaum genutzte Wohnzimmer zeigten zur Straße, während sich Küche, Bad und ein weiteres Zimmer, in das er sein überflüssiges Gerümpel gepackt hatte, auf der Rückseite des Hauses befanden.
Anfangs war Richard voller Elan gewesen. Endlich konnte er wieder auf die Straße gehen, ohne Gefahr zu laufen, beleidigt oder zumindest schief angesehen zu werden. Er mochte das Leben in der kleinen Stadt, ging zum Einkaufen auf den Wochenmarkt und beobachtete anschließend von einem Platz im Café die Menschen, wie er es früher immer in seiner Heimat getan hatte, um sich inspirieren zu lassen. Und er war davon überzeugt gewesen, die Inspiration gefunden zu haben, als er endlich mit einem neuen Roman begann.
Dann war der Einbruch gekommen. Zuerst verschlimmerte sich die Schlaflosigkeit und dann folgten sehr schnell Kopfschmerzen und Konzentrationsstörungen.
Bisher hatte Richard es nur auf eine halbgare Kolumne für eine Monatszeitschrift gebracht. Ihm war, als sei der letzte Rest Sinn aus seinem Leben gesickert. Der neue Roman, der Nachfolger seines Bestsellers, hing auf Seite 16 fest und er bezweifelte, ob auch nur eine dieser Seiten es wert war, gedruckt zu werden. Die Story erschien ihm banal, die Charaktere flacher als in jeder Heftchenreihe. Er glaubte niemals in die seelischen Abgründe eines Menschen eintauchen zu können, wie es beim letzten Buch gelungen war. Ihm wurde klar, dass sich dieser Coup nicht wiederholen ließ.
Richard vernahm ein Geräusch, zuerst ein Trippeln, dann ein emsiges Schaben. So, als würde sich etwas durch die Wand zu seiner Rechten graben. Er hatte es zum ersten Mal vor ein paar Tagen gehört und anfangs versuchte er sich einzureden, es seien Vögel, die es irgendwie geschafft hatten, in einen Zwischenraum zwischen seiner Wohnung und dem Nachbarhaus zu gelangen. Dort brüteten, um ihren Nachwuchs aufzuziehen. Aber Vögel legten ihre Eier nicht in den letzten Tagen des Oktobers ab und würden auch kein Interesse daran haben, sich Einlass in seinen Unterschlupf zu
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