Zwienacht (German Edition)
war niemand auf der Straße, dem sie besonders freundlich gegenübertreten wollte, sie schien einfach in den Tag hineinzulachen.
Außerdem war er vernarrt in ihren Kittel.
Auf den Türen des roten Fiats klebten in weißen Buchstaben der Name, die Telefonnummer und die Internetadresse eines Pflegedienstes. Richard hatte auf der Internetseite ein Foto der jungen Frau entdeckt. Sie hieß Maria Couto dos Santos und Richard vermutete aufgrund des Namens, dass sie Portugiesin war.
Maria tauchte mit ihrem feuerroten Dienstwagen immer zwischen neun und halb zehn auf.
Jetzt war sie im Haus und er konnte hören, wie sie die Treppe bis in die Etage über ihm erklomm.
Außer Richard gab es in dem vierstöckigen Haus, wenn man das ausgebaute Dach als Etage mitzählte, sechs weitere Mietparteien. Im Parterre wohnte ein rüstiges Rentnerehepaar. Mehrmals am Tag führte der Mann einen Rauhaardackel aus. Mit so weit ausholenden Schritten, dass der kleine Hund mit seinen kurzen Beinen nur mühsam Schritt halten konnte. Die zweite Partei im Parterre bestand aus einer Familie mit zwei Mädchen im Grundschulalter. Die Kinder runzelten immer die Stirn, wenn sie ihn sahen. Als hätten die Eltern eine deutliche Warnung vor dem neu hinzugezogenen Kauz ausgesprochen.
Dem Mann, der offenbar allein in der zweiten Wohnung auf seiner Etage lebte, war Richard bisher nur dreimal begegnet. Er war fett. Nicht nur beleibt, sondern fett. Sein Kopf mit dem teigigen Gesicht wirkte wie die Imitation des Vollmondes, der halslos auf dem Kopf mit dem schwarzen Locken thronte. Die Finger glichen prallen Würsten.
Bei der ersten Begegnung vor der Haustür war Richard von der ungeheuren Leibesfülle so verblüfft gewesen, dass er den Mann unverhohlen angestarrt haben musste, bis sich sein Nachbar mit einem ärgerlichen Grunzen von ihm abgewandt hatte. Richard war sich seines unverschämten Benehmens sofort bewusst geworden, aber ehe ihm eine Entschuldigung eingefallen war, stürmte der Mann mit erstaunlicher Geschwindigkeit die Stufen hinauf. Dabei hatte sein Körper beinahe den gesamten Flur ausgefüllt, während dabei die hölzernen Stufen bedrohlich unter ihm ächzten.
Hin und wieder bekam er Besuch von einer älteren Frau. Die unüberhörbaren Geräusche, die dann wenig später folgten – ein Staubsauger im Einsatz, Geklapper von Geschirr – zeigten, dass in der Wohnung geputzt wurde. Vermutlich war die Frau seine Mutter. Ein einziges Mal hatte er den Mann mit seinem alten, gelben DDR-Moped losfahren sehen und befürchtet, das Ding würde unter ihm zusammenbrechen. Die meiste Zeit stand das Gefährt allerdings im Flur und verlor Öl.
Im zweiten Stock lebte ein junges Paar mit einem Baby. Richard hörte es manchmal in seinen zu langen Nächten weinen. Die Mutter, eine freundliche, junge Frau, hatte kürzlich angeklopft und sich dafür bei ihm entschuldigt. Er musste sich nicht verstellen, als er ihr sagte, dass ihm ein kleines Kind nichts ausmachen würde. Es waren andere Dinge, die ihm den Schlaf raubten. Aber das erwähnte er nicht.
Die andere, direkt über Richard gelegene Wohnung, war es, die von der Portugiesin täglich aufgesucht wurde. Ahrens stand auf dem Namensschild neben der Klingel, aber er wusste über die Bewohner nur, dass sie niemals die Wohnung verließen und offensichtlich pflegebedürftig waren.
Das Dachgeschoss war zur einen Hälfte Abstell- und Trockenraum, während in die andere Hälfte kurz nach seiner Ankunft in Döbeln zwei Frauen mittleren Alters eingezogen waren. Sie waren meistens unterwegs und wenn sie doch einmal zuhause waren, erkannte Richard das an dem blauen Trabant, der dann am Bordstein parkte.
Es störte Richard nicht, dass er so gut wie nichts über seine Nachbarn wusste. Der einzige Mensch, der bisher sein Interesse wecken konnte, war Maria Couto dos Santos.
Er ging in den Flur, hörte das Klirren ihres Schlüsselbunds, dann schlug die Wohnungstür hinter ihr zu.
Richard überlegte, wie viel er bei seinem Termin in wenigen Stunden preisgeben wollte. Beinahe alles, beschloss er. Sonst wäre es so, als würde ein starker Trinker auf die Frage des Arztes nach dessen Alkoholkonsum mit „Hin und wieder einen Schluck“ antworten.
Der Reisende 1
Wenn man von den anderen Menschen gemieden wird, nur misstrauische oder ängstliche Blicke erntet, dann braucht man sich auch nicht um sie zu kümmern.
So einfach ist das. Eine offene Feindseligkeit würden die sich nie erlauben. Oh nein! Die Leute wichen vor mir
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