Zwienacht (German Edition)
es bereits hierher gekommen zu sein.
Nur wenige Minuten später hörte er die Stimmen zweier Männer. Der Psychiater verabschiedete einen Patienten. Richard wurde ein wenig ruhiger, als er feststellte, dass er ihn nicht zu Gesicht bekam, obwohl die Tür zum Flur nicht ganz geschlossen war. Es musste einen separaten Ausgang geben, um die Privatsphäre bestmöglich zu wahren. Wahrscheinlich würde er nie einem anderen Menschen im Wartezimmer begegnen. Jede Behandlung war exakt terminiert.
Schritte näherten sich. Ein groß gewachsener Mann in Richards Alter trat in das Wartezimmer, blieb lächelnd vor Richard stehen, der sich halb von seinem Stuhl erhoben hatte und streckte die Hand aus. Sie fühlte sich fest und vor allem trocken an, was Richard als angenehm empfand.
„Joachim Busch“, stellte sich der Psychiater vor. „Sie sind Herr Gerling.“ Eine Feststellung, keine Frage. Eine einzelne, schwarze Strähne hatte sich aus der geordneten Frisur gelöst und hing dem Mann in die Stirn.
Richard nickte. Dr. Busch umgab der Geruch von Nikotin und herben Rasierwasser. Statt eines weißen Kittels trug er ein hellblaues Hemd über der verblichenen Jeans.
„Kommen Sie, unterhalten wir uns ein wenig.“ Busch deutete mit einer Handbewegung zum Flur und blies sich die Haarsträhne aus der Stirn.
Das Behandlungszimmer erinnerte Richard an die verkleinerte Ausführung einer Warte-Lounge der ersten Klasse in einem Flughafengebäude. Zartblaue Wände, beinahe identisch mit dem Farbton von Buschs Hemd, zwei historische Stiche, die das alte Döbeln zeigten. Es gab zwei Sitzgruppen, die sich um jeweils einen niedrigen Glastisch mit Chromgestell platzierten. In einer Ecke stand eine filigrane Pflanze in einem fleischfarbenen Gefäß. Ein paar braune Tonkügelchen der Hydrokultur waren auf den silbergrauen Teppich gekullert und bildeten den einzigen Makel in dem ansonsten blitzsauberen Raum. Es gab keinen Schreibtisch, kein Regal mit Fachliteratur oder irgendwelche Behandlungsgeräte. Wobei Richard sich sofort fragte, wie er sich die medizinischen Gerätschaften eines Psychiaters überhaupt vorzustellen hatte.
Dr. Busch bat ihn Platz zu nehmen und Richard ließ sich in einen der behaglichen Sessel fallen.
„Sie sagten am Telefon, dass Sie an den Folgen eines Unfalls leiden.“ Busch hielt sich nicht mit langen Vorreden auf. „Was für eine Art Unfall war das?“ Der Doktor lehnte sich zurück und sah ihn mit einem angedeuteten Lächeln an.
Richard schluckte hörbar, seine Kehle hatte sich in Sandpapier verwandelt. Zwei, drei Sekunden vergingen. Busch verzog keine Miene, nickte und schüttete dann ein Glas mit Wasser aus einer Kristallkaraffe voll.
„Danke“, krächzte Richard und nahm einen tiefen Schluck. „Ich wurde vom Blitz getroffen“, sagte er dann und suchte nach einer Reaktion in Buschs Gesicht.
„Mmm...“, machte Busch. „Wie lange ist das her?“
„Drei Monate.“
Der Psychiater musterte seinen Patienten. „Wie schwerwiegend waren die Verletzungen?“
„Es gab keine. Zumindest keine sichtbaren.“
„Was meinen Sie mit keine sichtbaren ?“
Richard trommelte mit dem Zeigefinger einen nervösen Rhythmus auf der Sessellehne. „Ich war kurz bewusstlos.“
„Wie kurz?“
„Nur ein paar Minuten.“
„Ah... .“
„Aber ich glaube, dass der Blitz möglicherweise etwas in meinem Inneren ... in meinem Kopf angestellt hat. Ich habe recherchiert und dabei herausgefunden, dass es zu Spätfolgen kommen kann. Ungewöhnlichen Spätfolgen.“
Busch nickte. „Und Sie glauben an derartigen Spätfolgen zu leiden. Wie äußert sich das?“
„Ich habe häufig starke Kopfschmerzen und kann kaum noch schlafen.“
Der Psychiater zückte einen winzigen Schreibblock aus der Brusttasche seines Hemds und machte sich eine Notiz. So schnell, dass Richard vermutete, es gäbe ein medizinisches Kürzel für Schlaflosigkeit.
„Außerdem hatte ich heute Morgen eine visuelle Wahrnehmungsstörung.“
Busch war die Ruhe selbst. „Was ist geschehen?“
Richard schilderte den feinen Nebel in seiner Küche und die öligen Schlieren, die er mit seinen Bewegungen in der Luft erzeugt hatte.
„Das war das erste Mal?“, fragte Busch und brauchte diesmal etwas länger, um die Information auf seinem Block festzuhalten.
„Ja.“
Der Psychiater tippte sich mit dem Bleistift an die Nase. „Waren Sie nach dem Blitzschlag in medizinischer Behandlung?“
Richard zögerte kurz. „Ja ... ich wurde in der Ambulanz
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