Zwischen jetzt und immer
drei in sich zu vereinen, wie ein Schwamm aufzusaugen und wieder von sich zu geben, denn sie weinte so sehr und soviel, dass sie vor unseren Augen zu schrumpfen schien. Ich saß still, beherrscht und wütend in der Ecke und weigerte mich meinem Kummer freien Lauf zu lassen, weil ich das Gefühl hatte, dann bloß das zu tun, was alle von mir erwarteten. Und meine Mutter fing an aufzuräumen.
Zwei Tage nach der Beerdigung wirbelte sie mit einer Energie durchs Haus, die so stark und intensiv war, dass einem die Zähne klapperten. Ich stand im Türrahmen meines Zimmers und sah zu, wie sie sich berserkerartig durch den Wäscheschrank auf dem Flur wühlte und alles Unbrauchbare (verschlissene Waschlappen, Spannbettlaken für Betten, die längst auf den Sperrmüll gewandert waren, und Ähnliches) aussortierte. Und weiter ging’s, in die Küche, wo alles in den Müll wanderte, das zu nichts anderem mehr passte: ein einsames Marmeladenglas, ein rustikaler Teller, den wir bei einem Weihnachtsessen in einem ebenso rustikalen Landgasthaus als Andenken geschenkt bekommen hatten, und dergleichen mehr. Rastlos wanderte sie durch das ganze Haus, zog einen großen Müllsack hinter sich her und pfefferte so viele Sachen hinein, dass es nur so schepperte und krachte, bis der Sack zu voll und schwer war, um ihn noch hinter sich herzuziehen. Nichts war vor ihr sicher. Eines Tages entdeckte ich bei meiner Rückkehr aus der Schule, dass sie sich auch meinen Kleiderschrank vorgenommen hatte, denn sämtliche Klamotten, die ich seit längerem nicht mehr getragen hatte, waren verschwunden. Spätestens in dem Moment dämmerte mir, dass es keinen Sinn hat, sein Herz zu sehr an irgendetwas zu hängen; denn kaum drehst du dem Ding – wer oder was auch immer es ist – den Rücken, hast du es schwuppdiwupp auch schon wieder verloren.
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fielen ihrer Aufräumwutals Letztes zum Opfer. An einem Samstagmorgen, etwa eine Woche nach der Beerdigung, stand meine Mutter schon um sechs auf und stapelte alles Mögliche in unserer Auffahrt, weil sie für den Tag eine karitative Einrichtung zu uns bestellt hatte, die solchen Krempel abholte und weiterverwertete. Um neun hatte sie unsere Garage fast vollständig leer geräumt: das alte Laufband, Gartenstühle, ganze Kartons voll unbenutzten Weihnachtsschmuck . . . Bisher hatte ich ihre radikalen Aktionen vor allem ihretwegen zunehmend nervös verfolgt, doch allmählich galt meine Sorge nicht mehr nur ihr. Denn was würde wohl geschehen, wenn alles aufgeräumt und aussortiert war und nur noch eine unerledigte Sache übrig blieb: wir!
Ich lief über den Rasen vor unserem Haus zur Auffahrt, vorbei an einer Farbdosenpyramide (übrigens Dosen, die nie geöffnet worden waren). Meine Mutter beugte sich gerade über einen Karton mit Stofftieren.
»Wirfst du das alles weg?«, fragte ich.
»Ja«, antwortete sie. »Falls du irgendwas behalten möchtest, musst du schnell sein.«
Ich betrachtete den ganzen Kram, der zu meinem Leben gehört hatte, als ich klein war: ein rosa Fahrrad mit weißem Sattel, ein kaputter Plastikschlitten, ein paar Schwimmwesten aus dem Boot, das wir schon vor Jahren verkauft hatten. Kein Gegenstand bedeutete irgendetwas, jeder Gegenstand war wichtig. Ich hatte keinen Schimmer, was ich nehmen sollte, da entdeckte ich den Karton mit dem
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. Obenauf lag zusammengeknüllt das sich selbst erwärmende Handtuch, welches mein Vater nur wenige Wochen zuvor zu einem »Wunder der Technik« ernannt hatte. Behutsam nahm ich es heraus, rieb das dünne Material zwischen meinen Fingern.
»Ach Macy.« Meine Mutter blickte mich stirnrunzelnd an. Über den Rand des Kartons vor ihr lugte der Kopf einer Giraffe, die mal, glaube ich, meiner Schwester gehört hatte. »Den Ramsch willst du doch nicht im Ernst behalten, oder?«
»Alles Schnickschnack, ist mir klar«, sagte ich.
In dem Moment bogen die Typen vom Sozialdienst in unsere Auffahrt ein. Lautes Hupen. Winkend und gestikulierend half meine Mutter ihnen beim Rückwärtseinparken. Zeigte ihnen dann die diversen Stapel und Kartons, die sie bitte einladen sollten. Während sie mit ihnen redete, dachte ich darüber nach, wie viele Male pro Tag sie wohl bei Leuten, die – genau wie wir – angerufen hatten, vorbeifuhren und wie es ihnen dabei erging. War es anders, wenn sie etwas abholen sollten, weil jemand gestorben war? Oder machte es in ihren Augen keinen Unterschied? Nach dem Motto: Müll
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