Zwischenfall in Lohwinckel
Kapazität ersten Ranges. Der kleine Volontär Persenthein durfte nur dabeistehen, Objektträger halten oder Klammern zureichen. Die ersten Zweifel an der Gottähnlichkeit der Chefärzte und an der Allmacht der Medizin tauchten auf, verschwanden aber wieder, als er Assistenzarzt am Krankenhaus in Scharfenburg wurde und alle Hände voll zu tun bekam. Er klapperte sich durch die Abteilungen des nicht großen Spitals durch, kam in ein paar Sackgassen theoretischer und experimenteller Natur, hatte einen siebenmonatigen Hormonrappel durchzumachen, währenddessen er die täglichen Pflichten vernachlässigte, aber bei vielen Tiersektionen eine sichere Hand bekam. Er war währenddessen zu der gynäkologischen Arbeit weitergeschoben worden, es war eine Art von laufendem Band, das den jungen Arzt durch die verschiedenen Zweige einer universellen Ausbildung durchtransportierte. In Abteilung G – Gynäkologische – war es auch, wo er auf Elisabeth stieß, die Säuglingsschwester werden wollte und ein Zimmer mit neunzehn Neugeborenen zu betreuen hatte.
Er ergriff das Gefühl für dieses große, gotisch lange, schmale und klare Mädchen so heftig und hielt es so eigensinnig fest wie einige Jahre früher die Leidenschaft für die Medizin. Er sauste kopfüber in Verlobung und Ehe hinein und fand sich wieder mit der jungen Praxis in Lohwinckel, die er von einem toten Onkel seiner Frau ererbte. Er war Ehemann, Bürger, Mieter des Angermannshauses, an dem er alsbald zwei Tafeln befestigen ließ. ›Dr. Nikolas Persenthein, praktischer Arzt und Geburtshelfer‹ stand auf der einen. Auf der andern: ›Ich bin in … und komme um … zurück‹. War Doktor Persenthein in eins der Dörfer gerufen und hing diese Tafel ausgefüllt am Haustor, dann erweckte das den Anschein von stärkstem Beschäftigtsein und bewegter Praxis.
Damals also sah er aus wie der heilige Georg, er hatte das Gefühl, von allem ein bißchen zu können und nichts ganz, und in den vielen schwankenden Stunden der nächsten zwei Jahre war ein großer Stoß von Fachbüchern und Zentralblättern, in denen man nachschlagen und Rat holen konnte, sein kräftigster Trost.
Zuerst holte man ihn nur, wenn es nicht anders ging, bei Geburten beispielsweise, wenn es nicht glatt verlief und die Hebamme nicht allein fertig wurde. Nach dem zweiten Jahr hatte er die Wendung auf dem Fuß und den Kristellerschen Griff schon ziemlich sicher im Handgelenk, und es passierten ihm weniger Dammrisse. Zu Rehles Geburt allerdings schaffte er Elisabeth vorsichtshalber nach Schaffenburg, sie machte nicht viel Geschichten und Doktor Schroeder auch nicht, es dauerte neun Stunden, und das Kind wog die vorschriftsmäßigen sechseinhalb Pfund. Als Rehle drei Monate alt war, begannen die ersten Meinungsverschiedenheiten über die sachgemäße Aufzucht dieses gesunden Säuglings, den beide übermäßig liebten, jeder auf seine Weise, Elisabeth zärtlich und zart verträumt und Kola Persenthein mit dem aggressiven Fanatismus, der alle seine Gefühle bestimmte. Elisabeth hatte das ihre im Säuglingsschwesternkurs gelernt. Aber Doktor Persenthein hatte sich eine ganz persönliche Meinung zusammengedacht – Rehles Geburt fiel ungefähr in die Zeit, da zum erstenmal und noch verwischt seine ›Idee‹ auftauchte – und er blieb Sieger. »Mein Kind soll aufwachsen wie das Reh im Walde«, erklärte der Doktor seinem erschrockenen Schwiegervater, dem Gymnasialdirektor Burhenne. Davon bekam das Rehle seinen Namen und seine Richtung. Da man den Menschen nicht vor Gefahren für seine Gesundheit beschützen kann, muß man ihn an Gefahren gewöhnen und seine Disposition darauf einstellen, mit Gefahren fertig zu werden – behauptete Doktor Persenthein. Demgemäß wuchs Rehle auf wie ein Bärenjunges oder wie ein Eskimokind. Hitze und Kälte, Schnee und Sonne, Nässe und Zugwind wurden gegen das kleine Etwas losgelassen, das mit drei Monaten nackt in den Spielwinkel gelegt wurde und dort allein und überraschend früh die Menschenkünste des Krabbelns, Sitzens, Gehens und Stehens lernte. Mit zwei Jahren war das Rehle narbenbedeckt wie ein Krieger, aber sehr vertraut mit allen kantigen, spitzigen, schneidenden, brennenden und sonstwie schmerzenden Dingen des täglichen Lebens und sehr geschickt darin, sie fortan zu meiden. Sie beroch alles, fraß alles und vertrug alles. Sie wurde groß und stark, sie verschaffte sich gelegentlich eine kleine Gehirnerschütterung, aber nie einen Schnupfen. Als sie drei
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