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Zwischenfall in Lohwinckel

Titel: Zwischenfall in Lohwinckel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Baum Vicki
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    Weil das Haus so alt war, gingen die Dielen in Doktor Persentheins Schlafzimmer schräg abwärts; das war eines von den Dingen, die Frau Persenthein Kummer machten. Die Betten standen schräg abwärts, und wenn man müde war, sackte man im Traum immer zum Fußende hinunter; das machte den dünnen Schlaf der Arztfrau noch leichter zerreißbar. Manchmal träumte sie von einer schiefen Fläche, auf der sie mit ungeheurer Angst ins Abgleiten gekommen war. Wenn die Nachtglocke in den Traum einbrach und sie herausholte, dann wußte sie nicht, ob sie geschlafen oder die Angst und das Gleiten im Halbwachen erlitten hatte. Sie griff in das Bett nebenan, es war leer. Sie drehte das Licht an und sah auf die Uhr. Halb drei Uhr morgens. Sie hörte das Kind in der Kammer atmen, während sie ihr großes Wolltuch umnahm und die hölzerne, knarrende, wunderliche Treppe hinuntertappte. Die Klingel an der Haustür wurde ungeduldig und dringlich. Im Ordinationszimmer brannte Licht. Elisabeth Persenthein trat auf Zehenspitzen ein, bevor sie hinging, die Haustür zu öffnen.
    Doktor Persenthein lag mit den Armen und dem Kopf über der ›Münchner Medizinischen Wochenschrift‹ und war eingeschlafen. Durch sein helles, seidendünnes Haar schimmerte die Lampe auf die Kopfhaut. Der Sterilisator fing einen Reflex auf, sein Nickel spiegelte winzig den schlafenden Doktor noch einmal: die Müdigkeit in den Schultern, die großen Hände, deren Haut vom vielen Waschen rauh und gesprungen war, die langen Finger mit den kurzgeschnittenen Nägeln. »Kola –«, sagte Elisabeth ins Zimmer hinein, gerade laut genug, um den Mann zu wecken, aber nicht so laut, daß er erschrocken wäre. Er reagierte sogleich.
    »Ich schlafe nicht«, sagte er prompt. »Es ist noch nicht spät. Ich muß nur noch den Artikel zu Ende lesen –«
    Auf Derartiges pflegte Frau Persenthein nicht zu antworten. Auseinandersetzungen über durcharbeitete Nächte hatte sie sich abgewöhnt. Sie lächelte – frisch und ermunternd, wie sie meinte. Aber da auch sie müde war und da die gespannte kleine Falte über ihrer linken Braue zuckte, war das ganze Lächeln eine etwas trübe und angestrengte Veranstaltung. Die Klingel forderte.
    »Ein Patient. Ich mache auf«, sagte Frau Persenthein. Doktor Nikolaus Persenthein wusch sich mechanisch die Hände. »Immer bei Nacht. Diese Kaninchen! Die Tasche –« sagte er.
    Gewöhnlich war der Mensch, der mitten bei Nacht zum Doktor kam, ein Mann, ein abgehetzter und aufgeregter Arbeiter aus der Vorstadt Obanger oder ein Bauer aus einem der Dörfer hinter dem Düßwalder Forst, den die Frauen vom Krankenbett weg zum Arzt gejagt hatten. Seit drei Leute an der Grippe gestorben waren, holten sie den Doktor, wenn jemand fieberte und hustete, sie holten ihn etwas zu spät, aber sie holten ihn, und dann war ihnen auch jede Tages- und Nachtzeit recht. Frau Persenthein nahm den konfusen Bericht entgegen, während Doktor Persenthein schon das Motorrad aus dem Verschlag herausschob. Sie schaute die Tasche nach – »Omnadin? Spritze? Physostigmin?« – fragte Persenthein, der die Windjacke überzog und sich übertrieben wach gebärdete. Die Frau ließ die Tasche zuschnappen und machte sie am Motorrad fest. Vor dem Haus schauerte ein kühler Dämmerungswind an ihre bloßen Füße. Persenthein knurrte unfreundliche Dinge zu dem Mann, der mit beleidigtem Gesicht dabeistand und das üble Befinden seines Kranken zu Hause übertrieb, um die nächtliche Expedition zu rechtfertigen. Obwohl Doktor Persenthein sich beeilte, dauerte der Abmarsch lange, denn er war ein überaus langsamer Mensch. Er bastelte noch am Motorrad herum. Er knöpfte die Windjacke noch einmal auf und zu und suchte etwas. Er öffnete die Tasche nochmals und revidierte ihren Inhalt. Schließlich schlug die Kirchenuhr drei, und das Motorrad mit dem knurrenden Doktor und dem gekränkten Mann auf dem Soziussitz knatterte durch das Stadttor und davon. Elisabeth konnte zurückkehren in das Schlafzimmer mit den schrägen Dielen und dem entzweigerissenen Traum.
    Daß die Dielen schräg waren und die Betten abwärts standen, kam davon, daß Persentheins in einem uralten Fachwerkhaus wohnten. Eigentlich war es gar kein Haus, sondern nur ein Anhängsel des alten Stadtturms, welcher der Angermann hieß. Das Doktorhaus wurde das Angermannshaus genannt, und sie zahlten dem Magistrat von Lohwinckel nur achthundert Mark Miete dafür. Die Hinterwand war noch ein Stück der alten Stadtmauer, aus

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