0007 - Die Nacht der mordenden Leichen
Zamorra. »Vor allem wollten wir Sie jedoch um Zimmer für die Nacht bitten. Haben Sie Fremdenbetten?«
Der Wirt schien von diesem Wunsch nicht begeistert zu sein. Er musterte die beiden Fremden. »Es übernachtet sonst nie jemand in Lamastre…«
»Aber heute!« Zamorra ließ sich nicht abweisen. Er zog seine Brieftasche aus dem Jackett, und der Wirt bekam Stielaugen. Er hatte das Bündel Banknoten gesehen, das der Fremde mit sich herumschleppte.
»Ich habe zwei Zimmer für private Gäste«, sagte er schnell. »Die könnte ich Ihnen zur Verfügung stellen. Oder benötigen Sie nur einen Raum?«
»Nein, nein«, wehrte Zamorra ab. »Zwei Zimmer, das geht schon in Ordnung. Zeigen Sie sie schon einmal meiner Sekretärin. Ich hole inzwischen das Gepäck aus dem Wagen.«
Zamorra stand auf und nahm den Autoschlüssel aus der Sakkotasche. Er würde versuchen, vor dem Schlafengehen den Wirt noch zu einer Flasche Wein einzuladen und ihn bei dieser Gelegenheit nach der ›Schwarzen Frau‹ auszufragen. Die Sache interessierte ihn.
***
Victor Mannaix wurde von den übrigen Dörflern gemieden. Nicht, weil er so zerlumpt und ungepflegt herumlief – das taten andere im Dorf auch –, aber er war der Totengräber von Lamastre. Die Leute behaupteten, er stinke nach seinen Leichen.
Tatsächlich lastete der Geruch der Verwesung wie ein giftiger Hauch in jeder Fuge und Mauerritze des Bruchsteingebäudes auf dem Friedhof von Lamastre. Auf dem First stand ein kleiner Turm mit der weithin sichtbaren Glocke darin. Der Totenglocke. Sie sang ihr metallenes Lied, wenn der Sensenmann wieder ein Mitglied der Gemeinde dahingerafft hatte.
Das Gebäude hätte dringend einer Renovierung bedurft. Auf der Talseite hatte sich eine Stützmauer gesenkt, und das Totenhaus geriet in Gefahr, abzurutschen. Mauerfugen waren auseinandergeklafft, und durch die Ritzen schlüpften Käfer und Ratten. Es gehörte mit zu Mannaix’ Aufgaben, diese Ratten zu vertreiben. Im letzten Jahr war es vorgekommen, daß einige der Nager eine Leiche angefressen hatten. Noch dazu im Gesicht, wo es jeder sehen konnte.
Seitdem wurden die Sargdeckel bis zum Begräbnis aufgelegt. Aber die Ratten bissen sich mitunter auch durch das dünne Holz.
Deshalb lag Victor Mannaix auch in dieser Nacht auf der Lauer. Er bewohnte eine kleine Kammer hinter dem Raum, in dem die Leichen aufgebahrt wurden.
Seelsorgerisch betreut wurde die Gemeinde vom Pfarrer aus Tournon. Er kam nur ab und zu herüber, um in der halbverfallenen Kirche von Lamastre die Messe zu lesen. Auch wenn Begräbnisse notwendig waren, kam Frère Marcell, ein Franziskaner-Pater. Es konnte schon vorkommen, daß er einmal nicht sofort Zeit hatte. Und die Sonne über den Ardennen brannte heiß. Die Angehörigen waren froh, wenn sie die entseelten Körper ihrer Anverwandten schnell aus dem Haus bekamen.
Die Leichen lagen dann in der Friedhofskapelle von Lamastre, in deren Totenraum die Luft zum Schneiden dick wurde.
Deshalb stank Victor Mannaix.
Er hatte sich damit abgefunden, daß die Leute von Lamastre ihn nicht mochten. Er machte sich nichts aus Gesellschaft. Am liebsten war er allein. Der Friedhof war sein Zuhause. Hier war sein Reich, in dem er schalten und walten konnte. Niemand hatte ihm hier etwas dreinzureden. Victor war nicht ganz richtig im Kopf. Ein gutmütiger Kretin.
Manchmal redete er mit seinen Leichen. So wie vereinsamte alte Jungfrauen sich mit ihren Katzen oder Hunden unterhalten.
Michel und Marie hatte er nichts zu sagen. Die jungen Leute kannte er kaum. Außerdem waren ihre Leichen zu sehr entstellt. Nein, mit denen mochte Victor Mannaix nicht reden.
Aber das geronnene Blut roch stark. Es lockte die Ratten an.
Da kam wieder eine. Sie versuchte, am sitzenden Mann vorbei in das Innere der Kapelle zu huschen. Doch Victor war auf Draht.
Seine Keule zuckte auf das Tier hinunter. Es quiekte noch mal auf, dann streckte es sich. Viktor legte die Keule beiseite und faßte die Ratte am Schwanz. Er schleuderte sie in hohem Bogen hinüber an die Friedhofsmauer. Bald würden sich dort ihre Kameraden über sie hermachen und sie zerfleischen.
Victor Mannaix griff nach der Rotweinflasche, die an die Bruchsteinmauer der Kapelle gelehnt war, und nahm einen tiefen Schluck.
Genüßlich wischte er sich über den zahnlosen Mund.
Er mochte diese mondhellen Nächte, an denen er allein war und er seinen krausen Gedanken nachgehen konnte. Er blinzelte hoch zur Sichel des Mondes, die sich bleich und unmerklich
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