0018 - Die Hexenschwestern
war leer. Und die Leiche meines Sohnes ist plötzlich lebendig geworden! Ich habe es gesehen, mit meinen eigenen Augen! Und eine fürchterliche weibliche Gestalt riß ihm das Totengewand vom Körper und stürzte sich auf ihn. Mit blutunterlaufenen Augen machte sich die Hexe über ihn her.«
Halb entsetzt und halb ungläubig starrten die anderen ihren Vorgesetzten an.
»Sie haben das nicht geträumt, Leutnant?« meldete einer der Jüngsten seine Zweifel an.
»Nein!« schrie es aus der gepeinigten Kreatur heraus. »Ich habe nicht geschlafen, also kann ich nicht geträumt haben! Ich komme soeben vom Friedhof. Und es hat sich alles so abgespielt, wie ich es euch erzählt habe.«
Der Jüngere dachte nach und schlug dann mit der Faust auf den Tisch.
»Beim furchtbaren Halys!« schimpfte er in einem schwer verständlichen türkischen Landdialekt. »Wenn das nicht mit der Geschichte dieser Lamias zusammenhängt, Leutnant!«
»Sie meinen diese alte Geschichte mit dem Griechen?« fragte der Beamte.
»Ja, Leutnant. Ich kann mich gut entsinnen, wie meine Großeltern immer davon erzählten. Sie sind doch ein Haddur, Leutnant. Und vor dreihundert Jahren haben die vier Töchter jenes Griechen allen Haddurs Rache geschworen.«
»Ich habe diese alte Geschichte vergessen«, sagte der Leutnant.
»Gut, es soll da etwas vorgekommen sein. Einer meiner Vorfahren hat ein paar Mädchen geschändet – aber was geht mich das an? Warum sollen mein Sohn oder ich dafür büßen?«
»Ich werde Ihnen die Geschichte erzählen, Leutnant. So, wie sie sich zugetragen hat.«
Aber der junge Beamte kam nicht dazu.
Er setzte gerade an, als die Tür aufgerissen wurde.
***
Leutnant Haddur wußte sofort, was geschehen war. Er hörte nicht die wahnsinnigen Schreie der beiden Frauen. Er sah nur ihre Augen, die ihnen aus den Höhlen zu treten schienen.
Vor ihm standen Dahla und Heria, die Frauen seiner beiden Brüder, die vor einem Jahr bei einem Feuergefecht an der Grenze von Schmugglern erschossen worden waren. Die beiden Männer lagen auf demselben Friedhof begraben, auf dem auch der junge Achmud Haddur lag. Keine hundert Meter vom Grab seines Sohnes entfernt.
»Die Gräber!« wimmerten die beiden Frauen. »Die Gräber unserer Männer sind leer! Wir haben vier Frauen gesehen, häßliche Hexen, mit Blut beschmiert und gierig nach Blut von Leichen! Wir sind fast ohnmächtig geworden. Wir sahen die offenen Gräber!«
»Wann?« fragte Achmud Haddur.
»Weiß ich nicht genau«, gab Dahla, die jüngere der Frauen, zur Antwort. »Halbe Stunde vielleicht, vierzig Minuten. Wir waren wie gelähmt. Sahen die Männer da vor uns. Sie haben gelebt! Sie haben sich bewegt! Und die Hexen haben ihr Blut getrunken. Dann haben sie die Männer mit etwas eingerieben. Wir wissen nicht, was es war. Ein Saft, der nach Kräutern roch.«
»Und dann?« fragte der Leutnant wieder.
»Dann? Die Hexen verschwanden. Plötzlich waren sie weg, und unsere Männer auch. Wie vom Erdboden verschluckt. Beim großen Fluß aller Geister, ihr müßt los, Achmud. Nimm deine Leute und suche diese schrecklichen Hexen! Du mußt sie finden, damit die Körper unserer Männer in Frieden ruhen können!«
»Nicht in der Nacht, Dahla«, sagte Achmud Haddur. »In dieser Hölle von Finsternis finden wir keine Spuren. Wir werden bis zur Morgendämmerung warten müssen. Und vielleicht erzählt uns jetzt mein Kollege die Vorgeschichte dieser grausigen Tat. So, wie sie in der Gegend überliefert worden ist.«
***
Das war vor genau dreihundert Jahren. Im Sultanat von Neu-Chattusa herrschte der grausame und ungerechte Sultan Kamal Haddur.
Er führte ein so strenges Regiment, daß niemand sich nur in die Nähe seines Palastes wagte. Besonders war kein Weiberrock vor ihm sicher.
Manchmal geriet er in Anfälle von Leichtsinn und Verschwendungssucht. Dann warf er mit Gold und Edelsteinen um sich. Er beschenkte die weinenden Frauen, um sie über ihre verlorene Ehre zu trösten. Dabei ging sein Privatschatz allmählich zu Ende.
Der Sultan mußte nach einer Möglichkeit suchen, seine Schatztruhen wieder aufzufüllen. Das Land war so karg, daß er aus den armen Bauern nicht noch mehr Steuern herausquetschen konnte. Und die Kaufleute mieden seit langem die Stadt, seit sie wußten, wie sehr Kamal Haddur auf ihr Geld aus war.
Da kam dem Sultan die Geschichte des Kaufmanns Enneus Likargos zu Ohren.
Es handelte sich um einen griechischen Händler aus der Nähe von Athen, der von seiner Heimat aus große
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