0023 - Bei Vollmond kommt das Monster
eine Öffnung zu schaffen, die groß genug war, um seine ungeschlachte Gestalt durchzulassen.
Plötzlich gab das Gitter nach – er hatte es aus seiner Verankerung im Mauerwerk gestoßen. Fast riss es ihn mit nach unten. Doch er ließ es gerade rechtzeitig los, so dass es in die Tiefe segelte und mit dumpfem Laut auf dem Erdboden aufschlug.
Mauro riss auch jetzt nicht die zerstörten Fensterflügel auf, sondern zwängte sich durch den glaslosen Rahmen und kauerte sich in die Öffnung. Er stierte in die Nacht hinaus.
In diesem Augenblick flog die Tür auf. Aquila und Modena, durch den Lärm alarmiert, blieben wie erstarrt stehen und blickten ungläubig und maßlos entsetzt auf die schaurige Gestalt, die sich nach ihnen umdrehte. Mauro gaffte sie aus wässrigen roten Augen an, riss das Maul auf und steckte die blaue Zunge aus.
Weder Modena noch Aquila konnten sich daran erinnern, jemals etwas derart Grausiges gesehen zu haben. Es war kein Wunder, dass sie jetzt vor Angst schrien und nicht wagten weiterzulaufen.
Mauros Handlungsweise wurde durch das Auftreten der Pfleger beflügelt. Hatten sie jetzt angenommen, er würde sich auf sie stürzen, um ihnen die Kehlen zuzudrücken, so hatten sie sich getäuscht.
Mauro stieß sich von der Fensterbank ab. Er sprang aus dem ersten Stockwerk in den Park der Anstalt hinab.
Modena stürzte als Erster ans Fenster. Von hier aus sah er noch, wie die grässliche Gestalt sich vom Boden aufrappelte. Sie war unverletzt. Grunzend rannte sie davon und verschwand in einem Gebüsch.
»Ein Monster«, keuchte Gino Modena, »mein Gott, ein Monster!«
***
Nicole Duval hatte die Tatsache, dass es zwischen ihrem Zimmer und dem Bad eine Verbindungstür gab, als außerordentlich bequem empfunden. Sie hatte sich vollständig entkleidet, eine Dusche genommen und war dann in das Gästezimmer zurückgekehrt.
Sie hatte sich das bodenlange Nachthemd übergestreift. Es war aus hauchdünnem Material gearbeitet und ziemlich durchsichtig. Nicole hatte das Licht ausgeschaltet, eines der Fenster geöffnet und sich todmüde unter die Bettdecke verzogen.
Sofort waren ihr die Augen zugefallen. Eigentlich hatte sie damit gerechnet, bis zum Hellwerden durchzuschlafen. Der Tag war lang gewesen: Früh waren sie in Château Montagne aufgebrochen, hatten auf dem Flughafen Orly den Jet der Alitalia genommen, der sie bis nach Mailand brachte. Dort hatten sie nach Pisa umsteigen müssen.
Ab Pisa ging es auf der Staatsstraße weiter bis nach Vigliani, von dort aus nach Monte Ciano. Am Nachmittag hatte Nicole seitenlange Diktate auf der mitgebrachten Schreibmaschine getippt. Zamorra hatte sie während der Reise auf Diktaphon gesprochen; es handelte sich ausnahmslos um Material für das neue Buch. Über Arbeitsmangel hatte sie nicht klagen können.
Trotzdem. Nicole wachte wieder auf.
Plötzlich beschleunigte sich ihr Herzschlag. Sie hatte eine Bewegung am Fenster wahrgenommen. Furcht stieg in ihr auf. Aber sie nahm sich zusammen und tat das, was ihr in dieser Situation als das einzig Vernünftige erschien: Sie bewegte sich nicht. Still lag sie, bis sie deutlich vor Augen hatte, was draußen vor dem Zimmer vorging.
Tatsächlich. Vor dem Fenster zeichneten sich die Umrisse einer Gestalt ab. Sie musste links vor der Mauer gestanden haben. Jetzt bückte sie sich etwas. Ihr Gesicht konnte Nicole nicht sehen, auch wusste sie nicht, ob es sich um eine Frau oder einen Mann handelte.
Das Grunzen des Störenfrieds räumte den Zweifel aus. Er hatte eine tiefe, kehlige Stimme.
Aber wie hatte er vor das Fenster gelangen können? Nicole nagte an der Unterlippe. Ihr Zimmer lag im ersten Stock, an der Rückseite des Gebäudes.
Moment, fiel ihr ein, es gibt doch einen Balkon und dieser Balkon hat eine Außentreppe, die an der Rückfront bis nach unten führt!
Schlagartig wurde ihr bewusst, dass der unheimliche Mann diesen Weg benutzt haben musste.
Wieder hörte sie das Grunzen.
Nicole hatte sich im Grunde weder vor noch nach ihrem Eintreffen in der Anstalt Illusionen über den Tagesablauf und die allgemeine Stimmung in diesen geschlossenen Häusern gemacht. Sie hatte sich sagen lassen, dass trotz aller Vorsichtsmassnahmen immer wieder mal ein Patient den Weg nach draußen fand. Deswegen beruhigte sie sich jetzt wieder etwas. Sie nahm an, es mit einem ausgebrochenen Geisteskranken zu tun zu haben. Und der jagte ihr bei weitem nicht so viel Respekt ein, wie ein Dämon oder ein Vampirwesen –Nicole meinte, mit ihrer
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