0026 - Die Braut des Henkers
gesehen hatte. Wahrscheinlich hatten ihre überreizten Nerven ihr einen Streich gespielt. Aber zur Sicherheit wollte sie noch einige Zeit hier in diesem Felsspalt ausharren.
Ihre Finger umspannten immer noch das Amulett auf ihrer Brust.
Irgendwie hatte sie ein grenzenloses Vertrauen in diesen silbernen Talisman. Er hatte ihrem Chef schon in so vielen Situationen geholfen, warum also nicht auch ihr?
Vorsichtig, um sich ja nicht durch das Klirren der Kette zu verraten, nahm sie es vom Hals und schlang sich die Kette um die Hand.
Da ließ sie ein Geräusch zusammenzucken.
War das da eben nicht ein Scharren gewesen?
Und da traf sie von oben ein eisiger Hauch. Sie zog die Wolljacke fest um ihre Schultern.
Doch es half nichts. Klappernd schlugen ihre Zähne aufeinander.
Woher kam diese Kälte plötzlich? Sie hatte doch unten am Strand nicht so gefroren. Sie konnte sich das nicht erklären.
Und dann vernahm sie es ganz deutlich. Ein Stöhnen, Keuchen, das den ganzen Raum zwischen den Felsen auszufüllen schien. Es kam von überall, war an jedem Punkt gegenwärtig und kam ihr so laut vor, dass sie meinte, ihr Schädel müsse zerspringen.
Ihr Kopf zuckte hoch – und sie schrie auf.
Deutlich konnte sie wieder diese beiden grässlichen Lichtpunkte erkennen, die sie schon vorhin am Strand angestarrt hatten.
Unwillkürlich drängte sie sich noch weiter in die Felsnische. Wie gelähmt musste sie zusehen, wie sich eine männliche Gestalt über den Spalt schob.
Da wurde ihr klar, dass dieser Unheimliche dort oben nur nach einer Möglichkeit Ausschau hielt, herunterzukommen.
Entschlossen wollte sie sich aus der Nische lösen und hinausrennen.
Doch sie kam nicht vom Fleck. In ihrer Panik glaubte sie, der andere hätte ihre Gedanken lahm gelegt. Aber sie konnte doch klar denken. Da begriff sie mit schrecklicher Klarheit, dass sie im wahrsten Sinne des Wortes festsaß.
Sie hatte sich so weit in die Felsnische hineingedrängt, dass sie eingeklemmt war und sich endgültig nicht mehr rühren konnte.
Dann war es doch eine Falle gewesen, die dieser Mädchendämon ihr und ihrem Chef gestellt hatte!
Sie hatte ihr rechtes Bein mit dem eigenen Körper eingeklemmt, und sie spürte schon, wie die Blutzirkulation unterbrochen wurde und es kälter und kälter wurde.
Ein Eishauch traf ihr schweißnasses Gesicht. Sie schauderte. Eine Gänsehaut kroch ihr über den Rücken.
Mit brutaler Gewissheit wusste sie, dass sie unabänderlich gefangen war.
Und draußen wartete das Grauen…
***
Wie durch einen Nebel, der sich langsam verzieht, tastete sich Zamorras Bewusstsein wieder zurück in die Wirklichkeit.
Was war überhaupt geschehen?
Er hatte auf einer Treppe gestanden. Auf welcher Treppe? Und dann war da das Bild einer Schlange, die ihn zu verschlingen drohte. Eine Schlange?
Etwas war in seinen Geist eingedrungen, hatte ihn völlig gelähmt.
Wie kam er überhaupt hierher?
Eine Stimme drang in sein Bewusstsein. »Du möchtest wohl gerne wissen, wer dich zur Strecke gebracht hat, was? Mach deine Augen ruhig auf und schau dich um – lange wirst du sowieso nicht mehr leben. Ich weiß genau, wer du bist, Zamorra! Professor, dass ich nicht lache. Du hast gehandelt wie ein neugieriges Kind, das sein Spielzeug auseinandernimmt und es nachher nicht zusammensetzen kann. Du hast lange genug gewirkt und gegen die Dämonen gekämpft. Jetzt hat deine Stunde geschlagen. Nun mach schon die Augen auf. Ich weiß, dass du wach bist.«
Zamorra blinzelte. Das Kerzenlicht tat seinen Augen weh. Es dauerte einen Moment, bis er sich an die Helligkeit gewöhnt hatte. Unter unsagbaren Mühen wandte er seinen Kopf und schaute sich um.
Zamorra blickte genau auf eine hagere Gestalt. Er erinnerte sich, sie schon einmal gesehen zu haben. Sie war hoch gewachsen, und das Gesicht übte eine sonderbare Wirkung auf ihn aus. Abscheu und Ekel stiegen in ihm auf.
Jetzt machte der Mann einen geräuschlosen Schritt nach vorn.
»Ich habe dich bereits erwartet, Zamorra, du Karikatur eines Geisterjägers, wie man dich in deiner Zeit nennt. Hier hat es sich ausgejagt, Menschlein. Denn hier in mir hast du deinen Meister gefunden. Du kennst mich genau, denn du hast meine Diener schon oft genug angegriffen und auch besiegt. Das muss ich zugeben. Doch hier ist dein Weg zu Ende. Und in dieser Zeit wird sich niemand mehr an dich entsinnen können, denn mit dir wird auch jede Erinnerung an dich ausgelöscht sein.«
Der Mann lachte meckernd.
Zamorras Gedanken
Weitere Kostenlose Bücher