0045 - Die Werwölfe von Wien
Rustenschacherallee entlang. Als die gleißenden Lichtfinger gegen den Körper stießen, der auf der Fahrbahn lag, trat der Fahrer hastig auf die Bremse.
Gerd Kabelka wollte sich erheben, doch er schaffte es im Augenblick nicht. Er mußte erst den furchtbaren Schock verdauen, den er erlitten hatte.
Mit glasigen Augen starrte er in das grelle Licht. Es schien ihn nicht zu blenden. Er hörte, wie eine Wagentür zugeschlagen wurde. Dann näherten sich ihm Schritte.
Gerettet! Du bist gerettet! pochte es zwischen Kabelkas Schläfen.
Der Autofahrer beugte sich über den Straßenbahnfahrer. »Ist Ihnen nicht gut? Sind Sie verletzt?«
Kabelka wollte antworten, aber aus seinem Mund kam nur ein unverständliches Gestammel: »Dienstschluss… Praterstern… Heimweg… Hauptallee… Überfall…«
»Man hat Sie überfallen?« fragte der Autofahrer aufgeregt. »Sind Sie verletzt? Brauchen Sie einen Arzt?«
»Nein«, krächzte Kabelka. »Ich bin unverletzt…«
»Möchten Sie, daß ich Ihnen beim Aufstehen helfe?«
»Ja.«
Hände schoben sich unter den Straßenbahner. Ächzend zerrte der Autofahrer ihn hoch. Kabelka versuchte, mit den Beinen mitzuhelfen, aber das ging nur sehr schlecht. Wenn ihn der Mann nicht gestützt hätte, wäre er wieder umgefallen.
»So etwas Blödes«, brummte der Autofahrer. »Wer überfällt schon einen Straßenbahnfahrer, der auf dem Heimweg ist? Wie viel Geld haben Sie bei sich gehabt?«
»Fünfzig Schilling. Ich hab’ sie noch. Sie haben ihn verscheucht.«
»Das geschieht ihm recht. Wissen Sie was? Ich bring’ Sie zum nächsten Polizeirevier. Da können Sie Anzeige erstatten, und der Polizeiarzt kann sich um Sie kümmern. Können Sie den Kerl beschreiben?«
»Ja«, hauchte Gerd Kabelka schaudernd. »Ja, das kann ich. Er sah grauenerregend aus.«
»Wie meinen Sie das?«
»Er war ein Ungeheuer.«
»So furchtbar häßlich?«
»Nein, er war ein richtiges Ungeheuer.«
»Blödsinn. Es gibt keine richtigen Ungeheuer. Der Kerl muß Ihnen auf den Kopf geschlagen haben.«
Gerd Kabelka riß sich zornig los. Er schwankte, aber er fiel nicht. »Verdammt, ich bin nicht verrückt!«
»Das habe ich nicht behauptet.«
»Doch, und zwar versteckt. Er hätte mir vielleicht auf den Kopf gehauen und so. Aber ich bin vollkommen klar im Kopf. Ich weiß, was ich sage. Dieser Teufel war nicht hinter meinem Geld her. Er wollte etwas anderes…«
»Was denn?«
»Er wollte mein Leben! Verstehen Sie? Umbringen wollte er mich! Zerfleischen – mit seinen langen, spitzen Wolfszähnen.«
Der Autofahrer trat einen Schritt zurück. »Jetzt machen Sie aber einen Punkt, ja?«
»Sie glauben mir nicht? Verdammt, der Kerl war ein Wolf. Das heißt, zuerst war er noch ein Mensch. Aber dann hat er sich vor meinen Augen in einen gefährlichen Wolf verwandelt!«
»Sie lesen anscheinend zu viele Gruselromane!«
»Nein, ich sage die Wahrheit!« schrie Gerd Kabelka zornig. »Der Kerl war ein Werwolf! Er wollte mich töten! Warum glauben Sie mir nicht?«
»Sagen Sie, haben Sie was getrunken?«
Eine furchtbare Wut wallte in Gerd Kabelka hoch. Er wäre um ein Haar von dieser grauenerregenden Bestie getötet worden, und es regte ihn maßlos auf, daß ihm der Autofahrer das nicht glaubte. Für einen Verrückten hielt ihn der Mann. Für einen Lügner. Für einen Trunkenbold, der Wirklichkeit und Halluzination nicht mehr klar voneinander unterscheiden konnte.
»Ich schlage vor, Sie setzen sich wieder in Ihren Wagen und scheren sich zum Teufel!« fauchte Kabelka außer sich vor Wut.
Daß ihm der Mann das Leben gerettet hatte, hatte er schon vergessen.
»Warum machen Sie nicht endlich, daß Sie fortkommen, wenn Sie mir ohnedies nicht glauben?« schrie Gerd Kabelka.
Der Autofahrer schüttelte entrüstet den Kopf. »Narren gibt es in dieser Stadt. Das ist ja kaum noch auszuhalten. Und solche Leute werden auch noch von der Gemeinde Wien beschäftigt. Ich möchte bloß wissen, wie Sie zu Ihrem Posten gekommen sind.«
Ärgerlich kehrte der Autofahrer zu seinem Wagen zurück. Er setzte sich in das Fahrzeug und rief zum Seitenfenster heraus: »Eines steht fest: So schnell halte ich nicht wieder an, wenn einer auf der Straße liegt!«
Der Mann gab aggressiv Gas und fuhr weiter.
»Trottel!« schrie ihm Kabelka nach. Er mußte sich einfach Luft machen, um an seiner Wut nicht zu ersticken.
Die Hecklichter des Fahrzeugs verschwanden aus Kabelkas Blickfeld. Schlagartig setzte die Angst wieder ein.
Erneut stieg Panik in Gerd
Weitere Kostenlose Bücher